Es gab schon immer viele Wege und Spielarten des Rückzugs in die eigenen vier Wände. Düster, spießig und von ängstlicher Heuchelei schottete sich etwa das Biedermeier ab. Es war eine Zeit griesgrämiger und schwerer Weltabgewandtheit in dunklen Tönen und soliden Materialien, eine trotzig-enttäuschte Reaktion des Abwartens und der Gleichgültigkeit. Doch Dinge ändern sich. Der neue Rückzug heißt Cocooning und ist keine sozial-politische oder allgemein gesellschaftliche Entscheidung, keine gutbürgerliche Gemütlichkeit. Er ist individuell, befreiend und voller Leichtigkeit, gut gelaunt statt verbissen.
Cocooning ist mehr als ein Trend und kommt deshalb seit zwanzig Jahren nicht aus der Mode. Längst ist das Phänomen zu einer Lebenseinstellung und einem Lebensstil geworden. Cocooning ist weiblich – Pose und inneres Bedürfnis zugleich.
Minimalistische Oase statt schreiender Ego-Trip Mal für sich sein dürfen. Die lärmende und stressige Welt, die Sorgen und den Druck aussperren. Das gedankliche Fenster nach draußen einen Moment schließen, sich fallen lassen und wieder zur Ruhe und zu sich selbst kommen. Oder sich erst finden … Doch die Suche hat keinen esoterischen und nur wenig psychologischen Hintergrund. Sie ist viel mehr die Form eines Gesundheitsbewusstseins, das zu neuen Ansprüchen und Gewohnheiten führt. Es geht darum, Reize auszublenden, Kraft zu tanken, sich Gutes zu tun. Dazu braucht es nicht viel: ein gutes Buch, eine Pralinenschachtel, ein heißes Bad, leise Musik, einen Mug Kaffee, eine Tasse Tee, einen Becher Kakao oder ein Glas Wein. Die Ferne, der Urlaub sind zu Hause.
Sichtbar aussteigen Die neue Lässigkeit findet ihren Ausdruck im Erscheinungsbild. Die Kleidung gibt sich ungezwungen; überdimensionierte, fließende Schnitte schenken das herbeigesehnte Freiheitsgefühl. Von verschrienem "Gammellook" jedoch keine Spur: Tatsächlich ist das Styling sorgsam und demonstrativ komponiert. Locker gebundene Haare, Nude-Make-up unterstreichen eine gepflegte Frische, die sich auch in Stoffen trockener Haptik und neutraler Farbtöne widerspiegelt. Baumwolle und Wolle in Hellgrau, Ecru, Beige oder Hellblau sorgen für Wohlbefinden, schmeicheln Haut und Sinne. Luftige Wärme im Winter, klare Frische im Sommer gehören ebenso dazu wie eine durchdachte Umgebung. In der Einrichtung dominieren weiße Töne, glatte Oberflächen, puristische Linien, verwöhnende Accessoires wie Sitzkissen und leichte Kuscheldecken, und eine nach Zen-Vorbildern anmutende Dekoration, in der Holz, Sand und klares Glas zurückhaltende Akzente setzen.
Kostbares Nichts Cocooning ist ein selbstbewusster, optimistischer Rückzug, der sich nicht versteckt, sondern sich auslebt. Dieser luxuriöse Bescheidenheit ist längst ein Markt mit beneidenswerten Wachstumszahlen und beflügelt eine ganze Industrie. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Zeitschriften regen die Phantasie an und machen den Traum eines unkomplizierten, von Überflüssigem und Überladenem befreiten und selbstbestimmten Lebens greifbar. Pflegeprodukte versprechen die Erholung im eigenen Spa. Fruchtige Getränke und Schokoladenvariationen halten die Zeit an und entschleunigen den allzu strapaziösen Alltag. Auch Grünpflanzen unterstützen optisch und praktisch die Entspannung. Die Sehnsucht nach dem Recht, sich selbst zu sein, ohne sich selbst sein zu müssen, hat ihren Preis, und das einfache Leben ist auch ein teures Hobby … und durchaus ein Statussymbol.
Cocooning ist die Rückkehr zur eigenen Individualität, zu einer minutiös errichteten Selbstbehauptung und Selbstdefinition. Es ist die Suche nach der Ruhe zwischen den Stürmen, nach der Reinheit der von Gewittern bereinigter Luft. Es ist das Bekenntnis zu einer einstudierten Unverfälschtheit, eine Liebeserklärung an eine neue Natürlichkeit, die die Natur nicht wirklich braucht, und das Verlangen nach der Sinnlichkeit des schlichten und unbeschwerten Augenblicks.
ความคิดเห็น