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Eklektizismus – Individualität als künstlerischer Wohntrend


blaue Kommode vor roter Wand mit Lampe und Gegenständen


Lange Zeit galt es als selbstverständlich, dass ein schönes und geschmackvolles Zuhause eine gewisse Einheitlichkeit ausstrahlen sollte. Harmonisch ausgesuchte Farben, aber auch die Wahl eines festgelegten Einrichtungsstils, eines optischen „roten Fadens“ sozusagen, der sich auf Möbel, Stoffe, Dekorationsgegenstände erstreckte, wurden als allgemeingültiger Maßstab kaum hinterfragt. In den letzten Jahrzehnten allerdings weicht diese altehrwürdige Norm immer mehr einem selbstbewussten neuen Ansatz.



Was ist Eklektizismus?

„Eklektizismus“ kommt ursprünglich aus der Philosophie, wurde später ein Fachbegriff der Architektur und bezeichnet in diesem Zusammenhang, vereinfacht ausgedrückt, die Mischung von in Stil und Ursprung heterogenen Elementen. Auf die Welt der Sprache(n) übertragen würde ein Linguist hier von Anlehnung und Entnahme sprechen. Während in Bezug auf Weltanschauungen der Begriff eher positiv besetzt ist, weil er von der Fähigkeit zeugt, sich von dogmatischem und einseitigem Denken zu befreien, unterschiedliche Formen von Weisheiten zu schätzen, zu achten und sich zur Erschaffung einer eigenen Einstellung ihrer zu bedienen, wurde er in der Architekturgeschichte eher zu einem Schimpfwort und Synonym für undifferenzierten, misslungenen Mischmasch und Einfallslosigkeit. Dieses Wort erfährt nun eine neue Blütezeit und eine ganz unerwartete Aufwertung.


Eklektizismus heute: Perfektion kann Vielfalt sein

Der Gedanke, dass insbesondere in der Inneneinrichtung Schönheit nur entstehen kann, wenn alles aus einem Guss ist, wird seit der Mitte der 1990er Jahre immer häufiger in Frage gestellt. Stil wird nicht mehr ausschließlich in dem Bemühen um eine theoretisch fundierte und perfekte, stimmige Harmonie gesucht, die zunächst am Reißbrett entworfen wird und dann bis ins kleinste Detail umzusetzen ist. Das zunehmende Interesse an Design und seiner Vielfalt hat zu einer neuen Sichtweise geführt. Gerade Liebhaber und Sammler von Design-Objekten verließen mit Entschiedenheit eingetretene Pfade und erschufen resolut eigene Wege, die immer mehr Anhänger finden. Die Grundüberzeugung besteht darin, dass das, was an sich schön und hochwertig ist, in jedem Kontext seine Schönheit und seinen Wert bewahrt, auch dann wenn es mit anderen Gegenständen anderer, ja widersprüchlicher Lesart zusammengebracht wird. Vielmehr heben die jeweiligen Objekte auf diese Weise einander hervor, so dass jeder mehr Aufmerksamkeit bekommt, was wiederum seinen eigenen Wert, seine Einzigartigkeit, seine Unverwechselbarkeit und die Tiefe seines Charakters und seiner Eigenschaften sichtbarer, spürbarer und unmittelbarer macht.

Eklektizismus als gelebte ästhetische Individualität

Möbel, Sammlerstücke, Dekorationselemente unterschiedlicher geographischer Herkunft, aus unterschiedlichen Epochen, die eine unterschiedliche ästhetische Sprache sprechen, werden nicht danach ausgesucht, ob sie zusammengehören oder einander ergänzen. Relevant ist einzig ihre intrinsische Schönheit. Daraus, dass sie zusammengebracht werden, ergibt sich für denjenigen ein persönlicher Sinn und ein optischer und emotionaler Gewinn.

Eklektizismus darf allerdings nicht mit einem wahllosen Mix aus billigen Urlaubssouvenirs und zusammengewürfelten Geschenken verwechselt werden. Der Grundansatz setzt Kennertum und Feinsinn voraus.




Pierrot-Puppe in Koffer auf dem Flohmarkt




Harmonie entsteht aus Qualität und gutem Geschmack

Es spielt dabei keine Rolle, wie der so gezeichnete Leitfaden begründet wird. Ursprung kann der Wunsch sein, alte wertvolle Erbstücke bewusst mit neuen Elementen in Dialog zu bringen und unterstreichend in Szene zu setzen, oder sich schlicht mit Schönem zu umgeben. Gesammelt wird nicht thematisch, als Wertanlage oder auf einer kunstwissenschaftlichen Grundlage, sondern um wirklich inmitten dieser exquisiten Gegenstände zu wohnen und zu leben, um sie nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer optischen Qualitäten im Alltag zu verwenden und dadurch für sich selbst einen erhabeneren und genussvollen Lebensstil zu kreieren. Das so erschaffene Universum kann durchaus eine repräsentative Absicht haben und neben der persönlichen Freude am Design als Schaukasten für Persönlichkeit, Individualität, Kultiviertheit, Interessen, Geschmack, Modernität, Flexibilität, sozialen Status und Weltoffenheit fungieren – doch dies steht nicht im Widerspruch zur Authentizität des Gestaltungswunschs und ist lediglich angenehmes Beiwerk.

Was bewusst ausgesucht und zusammengestellt wurde, passt aus dem Grunde zusammen, dass diese Auswahl mit Bedacht und Erlesenheit geschah. Objekte unterschiedlicher Designer und unterschiedlicher Stilarten etwa werden in ihrem Zusammenspiel deshalb als stimmig und harmonisch empfunden, weil sie sich aufgrund ihrer individuellen Qualität gegenseitig bereichern und ein aussagekräftiges und aufmerksamkeitsstarkes Spannungsfeld entstehen lassen.




Holzkommode mit modernen Gegenständen in schwarz und weiß


Kein neuer Gedanke, aber neue Ausdrucksweisen

Tatsächlich ist daran in den Grundzügen nichts wirklich Neues. Antiquitäten-Sammler umgeben sich seit jeher mit besonderen Stücken aus verschiedenen Epochen, und sicher würde niemand auf die Idee kommen, eine antike englische Uhr auf einem Louis XV-Konsolentisch kritisch oder missbilligend zu beäugen oder als unpassend zu bewerten. Neu ist die Tatsache, dass konsequent Dinge in den Mittelpunkt gestellt werden, die nicht primär als Kunst oder Antiquitäten betrachtet und in der allgemeinen Vorstellung nicht als typische Teile einer Sammlung gelten würden: Hier werden zeitgenössische Designs und Alltag, Alt und Neu, Heimisches und Fremdes selbstbewusst integriert.


Aus Internationalisierung und Globalisierung geboren

Möglich wurde diese Erscheinung sicherlich durch die immer stärkere Internationalisierung unserer Lebenswelten. Kultur-, Geschäfts- und Massentourismus haben dabei zweifelsohne eine wichtige Rolle gespielt. Der Entdeckung fremder Designansätze und Einrichtungsstile stand nichts mehr im Wege, und durch Internet und Globalisierung wurde der Zugang zu den Arbeiten ausländischer Designer aus aller Welt auf einmal so vereinfacht, dass es kein Problem mehr war, sich herauszusuchen, was zu einem passte. Der Kauf von Design war nicht mehr nur auf speziellen Fachmessen oder in seltenen Galerien in wenigen Metropolen möglich, er stand jedem Kenner und Interessiertem offen. Dass aus dieser ersten Begeisterung und diesem unbändigen Durst nach neuen ästhetischen Möglichkeiten eine dauerhafte Anschauung wurde, zeigt, wie ernst sie zu nehmen ist, und ist ein Beweis ihrer Qualität.



Eklektizismus ist mit einer über 30-jährigen Erfolgsgeschichte mehr als nur eine Modeerscheinung oder ein vorübergehender Spleen. Er ist vielleicht einer der positivsten Ausdrücke unseres Zeitgeistes: Eklektizismus befreit Design und Inneneinrichtung vom Zwang einheitlicher und einengender ungeschriebener Gesetze. Er führt uns weg vom Schubladendenken unhinterfragter und subjektiv festgelegter Normen hin zu einem unbeschwert natürlichen und selbstbewussten Erleben und Ergreifen von Schönheit. Dieser Gewinn an Freiheit und Vielfältigkeit ermöglicht es jedem, die verschiedenen Aspekte seiner Persönlichkeit auszuleben und zu zeigen. Eklektizismus eröffnet so eine neue Dimension ästhetischer Toleranz, internationalen Dialogs, künstlerischen Verständnisses und Weltoffenheit – ganz so, wie es auch gute Übersetzungen tun – und somit zum Portal einer wahrhaftig zeiten- und grenzenübergreifenden Lebensart.

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