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Gepflegtes Wohnen als Lebensart und Philosophie



Stylisches japanisches Wohnzimmer mit hellem Holz


Die japanische Putzkultur


Werden Japan-Reisende nach ihren ersten Eindrücken im Land der aufgehenden Sonne gefragt, können diese je nach der Region und Präfektur, die sie entdecken durften, nach dem Anlass ihres Aufenthalts oder ihren eigenen Interessen sehr unterschiedlich ausfallen. Ein Punkt aber wird von jedem bemerkt, der Japan zum ersten Mal betritt: die unglaubliche Sauberkeit, ja Reinlichkeit, die sich auf alle Bereiche erstreckt. Bahnhöfe und Züge, Büroräume, Restaurants und Hotels sowie private Haushalte sind schlicht makellos. Diese angenehme Feststellung ist kein Zufallsprodukt einer gequälten Gründlichkeit. Vielmehr hat das Putzen in der japanischen Kultur und Denkweise einen festen Platz und ist Ausdruck einer alles umspannenden Anschauung, die dem Begriff „Lebensart“ eine neue Dimension verleiht.



Ist Putzen nicht überall auf der Welt im Grunde das Gleiche?

In der westlichen Gesellschaft sind die Gefühle, die der Tätigkeit des Putzens entgegengebracht werden, vielfältig und zuweilen gegensätzlich. Für manche ist es ein notwendiges Übel und eben unvermeidlicher Teil der lästigen Hausarbeit; für andere ist es ein Weg, um nach zu vielen Stunden am Computer mal richtig abzuschalten und sich ein wenig mehr körperlich zu betätigen, für weitere wiederum ein willkommenes Mittel der Prokrastination. Putzen kann auch Ritual sein, wie etwa in der Tradition des Frühjahrsputzes, die nicht so „deutsch“ ist, wie gern geglaubt wird: Tatsächlich gibt es in Italien den „pulizie di primavera“, in Frankreich „le grand nettoyage de printemps“, den „spring-cleaning“ von England bis Kanada. Im Übrigen aber wird eher wenig über diese alltägliche Angelegenheit nachgedacht – es sei denn vielleicht, um sich das Leben zu erleichtern und die entsprechenden Aufgaben so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Ein Zeichen für besondere Lebensart oder eine tiefreflektierte Philosophie ist das Putzen aber nicht. Anders in Japan.


Putzen als geistiger und religiöser Akt

Der Anblick kann für Reisende befremdlich sein und zunächst etwas antiquiert anmuten: Vor Schulbeginn oder in der Pause laufen japanische Schüler mit einem Wischtuch bewaffnet in einem 35°-Winkel gebückt und auf die Hände gestützt ihre Bahnen durch Klassenzimmer und Flure ab, bis der Boden glänzend schimmert. Es ist o-soji jikan [お掃除時間], Reinigungszeit. Dieser Vorgang soll den Kindern nicht nur Disziplin, Bürgersinn, Pflichtgefühl und Zusammenarbeit beibringen, es ist auch eine geistige Vorbereitung auf den Unterricht, ein Reinigen des Geistes, ein Reset der Gedanken, des Verstands und der Gefühle. Auch zuhause ist die Beteiligung von Kindern am Hausputz schon sehr früh ein wichtiger Aspekt der Erziehung. Ein ähnliches Schauspiel kann im Morgengrauen in Zen- und Shinto-Klöstern beobachtet werden. Das Putzen „auf allen vieren“ im schnellen Laufschritt erfüllt hier mehrere Funktionen. Wie bei Schülern auch geht es darum, die Seele zu reinigen, zu leeren und aufnahmefähig zu machen, es kommen dabei aber weitere Komponenten hinzu: Die hierfür typische Körperhaltung, die den Namen zoukingake trägt, ist auch körperlich erfahrbarer Dienst an den Gottheiten, Verbeugung vor der Natur und dem Sonnenaufgang, Ausdruck von Demut und aktive Form der Meditation. Dieses Ritual bildet das erste Glied eines jeden Tages, trennt Tag und Nacht und macht erst die weiteren Pflichten wie Gebet, Gesang, Schweigen und gegebenenfalls soziale Aufgaben, die in den folgenden langen Stunden das Leben der Mönche und Priester bestimmen werden, überhaupt möglich und sinnhaft. Dank des o-soji ist jeder neue Tag wieder wie ein makelloses Blatt Papier, das ohne Altlasten neu beschrieben werden kann. Diese Sicht der Dinge, die von Kindesbeinen an gelehrt wird und in den religiösen Praktiken des Landes ihre theoretische Vollendung findet, ist vielleicht einer der Gründe für die unvergleichliche und vielerorts bewunderte psychische Resilienz der japanischen Bevölkerung, etwa nach den zahlreichen Naturkatastrophen, die den Archipel immer wieder heimsuchen: Aus der Praxis des Putzens erwächst nicht nur ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Zurücknahme, sondern auch die Fähigkeit, jeden neuen Tag als Chance für einen Neuanfang zu betrachten und mit dem, was war, abzuschließen.


Wie Putzen in Japan das Gemeinschaftsgefühl bildet und stärkt

Neben der Reinigung von Geist und Seele spielt das Putzen in Japan eine zentrale gesellschaftliche Rolle – sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich. Zum einen werden Reinigungsarbeiten als Gelegenheit für soziale Beziehungen und insbesondere als Mittel gegen die Isolation betrachtet. Nicht nur in kleinen Ortschaften treffen sich Nachbarn regelmäßig, um in ihrem Viertel Bürgersteige, Parks, Spielplätze, Grünanlagen oder die Straßenrinne von Abfällen zu befreien, oder auf dem Land etwa Zufahrtswege, Böschungen oder kleine Bahnhöfe zu pflegen. Dies ist auch in den Metropolen der Fall. Für Neuankömmlinge ist dies ein Anlass, ein noch fremdes Umfeld rasch kennenzulernen und sich besser einzuleben. Diese generationsübergreifenden Aktivitäten sind für ältere Mitbürger nicht nur eine willkommene Abwechslung und kleine Highlights, die die Eintönigkeit des Alltags brechen und dem Leben für einige Stunden einen wertvollen Sinn geben. In ruralen Gegenden können sie auf diese Weise belebende Kontakte zu Jüngeren knüpfen, was sich positiv auf eine langfristige geistige Gesundheit auswirkt und die Inanspruchnahme praktischer Hilfe begünstigt: Bei solchen Begegnungen rund um Schaufel, Müllsäcke und Besen werden nicht selten Handys eingerichtet, wichtige Apps heruntergeladen oder neue Funktionen des Smartphones erklärt.



Japanische Straße mit Besen

Dass Bürgersteige selbst in abgelegeneren Wohnvierteln und engen Gassen überall in Japan makellos sind, ist für viele Touristen schon deshalb bemerkenswert und ein kleines Rätsel, weil im Straßenbild nur sehr selten öffentliche Abfalleimer zu entdecken sind. Tatsächlich gilt das stets mit dem Vergießen großer Wassermengen verbundene allmorgendliche Reinigen vor dem eigenen Haus oder erst recht vor dem eigenen kleinen Geschäft als ehrenvolle Aufgabe zur Stärkung der Gemeinschaft, als Zeichen der Höflichkeit gegenüber potentiellen Passanten, als Weg, das Glück willkommen zu heißen und den Gottheiten, die es bringen, zu danken. Ganz gleich ob bei gemeinsamen Aktionen oder individuellen Reinigungsarbeiten auf öffentlichen Wegen – es geht hier zwar durchaus um Sauberkeit und den Erhalt eines für alle ansprechenden Anblicks, der Freude bereiten soll, aber auch um ein Einbringen in das gemeinschaftliche Leben des Ortes oder des Viertels und um ein Zeichen des gegenseitigen Respekts und des Aufeinander-Achtens. Auch in KMU in Japan wird das Putzen heute noch sehr oft turnusmäßig und in Gruppen vom Personal selbst übernommen, wobei das Wort „Personal“ hierarchieübergreifend zu verstehen ist. Abteilungsleiter und untergeordnete Mitarbeiter putzen gleichermaßen gemeinsam, und auch Manager übernehmen die Reinigung der Toiletten. Dies soll zum einen die Teambildung fördern, zum anderen aber auch für Bodenhaftung und Realitätssinn in den höheren Befehlsebenen sorgen. Im privaten Umfeld wird das gemeinsame Putzen durch Mutter und Kind neben dem pädagogischen Aspekt als Festigung der Familienbande aufgefasst.



Putzen als Geschichts- und Kulturerbe

Der Ursprung dieser außergewöhnlichen Putzkultur liegt nicht allein in dem gedanklichen und weltanschaulichen Hintergrund Japans. Die klimatischen Bedingungen, die zu typischen Bauweisen und Einrichtungsmodellen geführt haben, spielten dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Neben Dielenböden, die heute noch in vielen öffentlichen Gebäuden zu finden sind, sind die traditionellen Tatami-Matten aus Reisstroh und Flatterbinsen (igusa) jahrhundertelang ein beliebter, doch auch kostspieliger Bodenbelag gewesen, der eine hohe und tägliche Aufmerksamkeit erfordert. Auch wenn Tatami in Mietwohnungen in den Großstädten heute nicht mehr verwendet wird, ist er in Altbauten weiterhin ein Symbol Japans und seiner bürgerlichen Bevölkerungsschichten, das unter dem Gesichtspunkt einer nachhaltigen und natürlichen Wohn- und Lebensweise in letzter Zeit in einzelnen Neubauten eine Renaissance erfährt. Die Putztechniken und -utensilien sowie Putzrituale, die sich daraus ergeben haben, werden als geschichtliches und kulturelles Erbe betrachtet, verehrt, wie ein Schatz gepflegt, bewusst erhalten und fortgeführt. In Workshops werden diese Praktiken den jüngeren Generationen übermittelt. Putzen ist in Japan Ausdruck und Werkzeug der historischen Kontinuität und Identität. Dass dies auch individuell gilt, zeigt die Tatsache, dass erwachsene Frauen jeden Alters, die in der japanischen Gesellschaft nach wie vor hauptsächlich für solche Aufgaben im Haushalt zuständig bleiben, das tägliche Putzen nicht nur als die Seele reinigende Tätigkeit empfinden, sondern auch darin eine lebendige emotionale Verbindung zu ihrer persönlichen Vergangenheit und ihrer Lebensgeschichte sehen. Die kleinen Gesten und Gewohnheiten, die von der Mutter an die Tochter weitergegeben werden, sind lauter kostbare Erinnerungen, die das Band noch dann stärken, wenn der Tod die gemeinsamen Wege längst ausgelöscht hat.



Tatami Matte mit einer Schale Matcha Tee


Putzen als Seele eines aufwändigen Kunsthandwerks

Die Empfindlichkeit und Staubanfälligkeit von Tatami-Matten und Holzböden hat zur Entstehung einer Reihe von vielseitigen, erstaunlich durchdachten und sehr hochwertigen Utensilien geführt, deren Herstellung einzigartige handwerkliche Fähigkeiten erfordert. Das Wischtuch (Zokin), das überraschenderweise ebenso wie Bücher, Stifte und Hefte auf der alljährlichen Liste der normalen Schulmaterialien steht, ist dabei eher Nebensache. Im Laufe der Jahrhunderte haben die japanischen Handwerker unzählige Varianten von speziellen Naturfaserbesen und -bürsten entwickelt, die keine Wünsche offen lassen. Mit unterschiedlichen Längen, Winkeln, Breiten, Materialien, Griffformen, Bündel- und Flechttechniken wird jeder Anforderung, jeder Raumgröße, jeder körperlichen Einschränkung, jedem Reinigungsbedarf bis ins kleinste Detail Rechnung getragen. Dabei wird wie immer in Japan größter Wert auf die perfekte Balance von Effizienz und Nutzbarkeit einerseits, handwerklicher Virtuosität und ansprechender Ästhetik andererseits gelegt. Auf den westlichen Besucher wirken diese an sich alltäglichen Gegenstände wie kleine Kunstwerke aus einer anderen Zeit. Manche von ihnen werden aus diesem Grund als Urlaubssouvenir gekauft.


Putzen als Motor des Erfindergeistes

Japan ist die Wiege vieler Erfindungen und der Einfallsreichtum seiner Bevölkerung scheint unerschöpflich. Dies betrifft auch alles rund um das Thema „Putzen“. So haben Recycling und Upcycling längst zur Normalität gehört, als diese Begriffe noch nicht erfunden waren. Ein wunderbarer Staubfangmopp aus abgelegter Kleidung, der bereits seit Jahrhunderten in den meisten Haushalten verwendet wird, zeugt von nachhaltigem Denken, das nicht erst durch den Klimawandel motiviert werden musste. Selbst in unserer Zeit, da der Staubsauger ganz selbstverständlich zur normalen Haushaltsausstattung gehört, wird weiterhin und mit erstaunlichem Elan nach neuen und besseren Möglichkeiten des Putzens geforscht. Forschen darf in diesem Kontext übrigens im doppelten Sinne verstanden werden: Putzen ist an technischen und geisteswissenschaftlichen Universitäten unter vielen Aspekten ein Studienthema. So hat sich die Museumskuratorin und Akademikerin Watanabe Yumiko auf die Geschichte des Putzens, seiner Utensilien und seiner ethnologischen und soziologischen Implikationen spezialisiert. Ebenso sind Ingenieure unermüdlich auf der Suche nach noch effizienteren Lösungen, die das Putzen verbessern können. Dabei sind nicht nur technische, sondern auch soziale Aspekte relevant, etwa die Rücksicht auf andere: In den sehr kleinen und sehr hellhörigen Mietwohnungen der großen Metropolen ist Lärmbelästigung ein nicht zu vernachlässigendes Problem. Es entspricht der japanischen Auffassung eines glücklichen nachbarschaftlichen Miteinanders, Staubsaugerlärm nach Möglichkeit zu vermeiden, zumal die vielen Parteien eines Hochhauses unterschiedlichste Arbeits- und Schlafenszeiten haben können. So wurden eine Vielzahl von Produkten entwickelt, die lautloses und gründliches Putzen gewährleisten und die im Westen bisher unbekannt sind. Hierzu gehören zum Beispiel Staub-Roller aus abziehbarer Klebefolie – eine Art überdimensionale Fusselbürste für alle Böden, die in allen Größen, Höhen und Breiten verkauft wird – sowie verschiedene Wischsysteme mit patentierten Profilen.



gehäkelter Putzmopp



Putzen ist in Japan nicht einfach nur Hausarbeit oder lästige Pflicht. Es wird als Suche nach Schönheit, nach ethischen und sozialen Werten, nach Gemeinschaft und Zusammenhalt empfunden und reflektiert, als Bestätigung der nationalen Identität und Unverwechselbarkeit und wird dadurch zu Lebensart. Es ist Teil des kulturellen Selbstverständnisses des Landes, Ausdruck einer einzigartigen Denkweise und einer tiefen Philosophie, Ursprung einer unbändigen Kreativität, die sich vom Handwerk bis in die Industrie erstreckt und mit Leidenschaft vorangetrieben wird. Es ist auch Zeugnis der in Japan in allen anderen Lebensbereichen spürbaren und oft bewunderten, da beispiellos natürlich vollzogenen Verbindung von Tradition und Fortschritt, von Geschichte und Modernität, von Vergangenheit und Zukunft. Es ist einfach … typisch Japan!


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