Foto: @unsplash / Rawan Yasser
Es ist ein einfaches altes Wort, dessen Etymologie in der Wahrnehmung bewusst und unbewusst eine große Rolle spielt: Aus dem lateinischen „manus“ für „Hand“ und „facere“ für „machen“ ergab sich im Laufe der Jahrhunderte ein Mosaik aus Wandel und Verschiebungen, das bis heute das Image eines vielseitigen und durchaus umstrittenen Begriffs prägt.
Eine lange Geschichte
Erstmals belegt ist das Wort als „manufacture“ in einem französischen Gesetzestext aus dem Jahre 1443 und bedeutet zu diesem Zeitpunkt lediglich „Herstellung“. 1458 findet es sich in einem italienischen Text, der im vatikanischen Archiv aufbewahrt wird. Hier wird es im Sinne von „Bauen“ verwendet. Erst Ende des 16. bzw. Anfang des 17. Jahrhunderts wird es in ganz Europa gebräuchlich: als „manufacture“ in Frankreich und England, als „Manufaktur“ im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Inzwischen aber hat das Wort ganz gleich in welcher Sprache eine eigene und ungewöhnliche Entwicklung durchlebt, wurde auf unterschiedlichste Weise rezipiert und ist heute mit teilweise recht widersprüchlichen Assoziationen verbunden.
Manufaktur im deutschsprachigen Raum als unschlagbares Marketingargument
In einer von Industrie, Großkonzernen und Billigimporten gekennzeichneten Zeit sehnen sich Menschen nach guter alter Handarbeit, nach kleinen überschaubaren Werkstätten, die aus Leidenschaft und Qualitätsbewusstsein arbeiten. Diese Nostalgie findet in dem Hype um viele neugegründete Kleinunternehmen ihren Ausdruck, die sich gern mit dem Beinamen „Manufaktur“ schmücken. Das Wort allein regt derart die Fantasie an, dass es im Marketing zu einer Art Wunderwaffe geworden ist: Im Grunde genügt es, einen Betrieb als „Manufaktur“ vorzustellen, damit er vom Verbraucher verklärt und mit positiven Vorurteilen besetzt wird. Es suggeriert Sorgfalt, Liebe zum Produkt, Handarbeit. Im deutschen Sprachraum verkörpert Manufaktur als Gegenpol zu industrieller Herstellung den Traum von Wertigkeit und Lebensart. Trotz der Tatsache, dass ideelles Versprechen und Wirklichkeit nicht notwendigerweise im Einklang sind und diese Bezeichnung vor allem Einfluss auf die Preisgestaltung der Produkte hat, erfreut sie sich seit etlichen Jahren einer ungebrochenen Beliebtheit.
Großbritannien und der romanische Sprachraum
In den romanischen Ländern und im Vereinigten Königreich ist von einem solchen Idealbild nichts übrig, der geschichtliche Hintergrund ist hierbei vorrangig: Manufakturen werden mit den Anfängen einer Industrialisierung der Textilindustrie und somit mit der Geburt industrieller Fertigung überhaupt in Verbindung gebracht. Die lateinische Etymologie spielt im romanischen Sprachraum nur noch sehr bedingt bzw. lediglich aus anderen Gründen eine Rolle. In Frankreich etwa tragen Porzellan- und Textilateliers, die unter Ludwig XIV. gegründet wurden und im Bereich Kunsthandwerk angesiedelt sind, aus historischer Tradition noch den Namen „manufacture“, allerdings geht es dabei eben ausschließlich darum, die lange Geschichte und den königlichen Ursprung dieser heute mitunter staatlichen Unternehmen zu unterstreichen, die als Denkmal Teil des Nationalstolzes sind und von denen einige als immaterielles Kulturerbe der Unesco gelistet sind. Für Kleinbetriebe, die der Philosophie und dem Image dessen entsprechen, das im deutschen Sprachraum als „Manufaktur“ gehypt wird, beruft sich Großbritannien auf andere Qualitäten: Menschliche Dimension, Engagement und Sorgfalt werden hier durch Ausdrücke wie „family business“ oder „small business“ vermittelt. In den romanischen Ländern ist von „entreprise artisanale“, „fabrication traditionelle“ oder „à l’ancienne“, von „trabajo artesanal“, „produzione tradizionali e artigianali“ die Rede, um nur einige Beispiele aus dem Französischen, dem Spanischen und dem Italienischen zu nennen. Dies liegt auch daran, dass „Handwerk“ in dieser Sprachwelt nicht oder kaum mit anderen Berufen wie Klempnerei, Maschinenbau, Kleinindustrie oder Baugewerke assoziiert wird, sondern in der Vorstellung eher Bilder kunsthandwerklicher und kulinarischer Art heraufbeschwört.
Foto: @wic.com / Folk Dancer Kleider
мануфакту́ра: ein Politikum zwischen Hass und Nostalgie
Auf dem geografischen Gebiet des ehemaligen Zarenreichs Russland sind die Dinge nicht so einfach. Die lateinische Herkunft wird bis auf in einer ausgesprochen gebildeten intellektuellen Oberschicht nicht wirklich erspürt und reflektiert, so dass eine Assoziation mit Handarbeit und der damit suggerierten Sorgfalt in der breiten Bevölkerung und somit als Marketingargument vollständig entfällt. Zudem ist die subjektive emotionale Wahrnehmung geteilt und die Wortdeutung wird zum Politikum. Wie in Großbritannien und Frankreich auch wird der Begriff grundsätzlich auf die Anfänge der Industrialisierung und der Serienherstellung von Waren zurückgeführt. In Kreisen, die dem liberalen und linken politischen Spektrum nahestehen, werden sie deshalb eher als Symbol für die mit der Entstehung von Fabriken einhergehenden unmenschlichen Arbeitsbedingungen und der Ausbeutung des Proletariats betrachtet. In konservativen und rechten Gesellschaftsschichten wiederum steht der Begriff für Nostalgie – allerdings nicht nach Handarbeitsqualität und kleinen Betrieben, sondern nach dem vergangenen, ja verlorengegangenen Glanz aus Zarenzeiten, der mit bekannten und begehrten Waren des Luxussegments über ganz Europa erstrahlte.
Manufaktur ist ein schillerndes Wort, das in jedem Sprachkulturkreis mit den verschiedensten Assoziationen belegt wird – von Qualitätsversprechen und Nostalgie über neutrale, desinteressierte Gleichgültigkeit bis hin zu Groll und Hass. Diese Spannbreite an Inhalten und unbewussten Bildern, Philosophien und Vorstellungen zwischen Hype und Schimpfwort zeigt, wie gefährlich es wäre, es wörtlich zu übersetzen.
Comments