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AutorenbildMartina Schmid

Weihnachtskarten aus aller Welt

Spannende und 'entlarvende' Traditionen


bunte Weihnachtskarten


Unser Lifestyle hat sich in den letzten Jahren radikal verändert: Wir kommunizieren beruflich und privat per Messenger-Dienst oder Video-Call, die E-Mail ist für die meisten von uns wohl das „Schriftlichste“ dessen, was wir uns vorstellen können. Eine Ausnahme gibt es aber: Gegen Ende des Jahres, wenn sich das Licht rar macht und uns Winter und Dunkelheit umgeben, erwacht auch die Sehnsucht nach Gemütlichkeit und Geborgenheit und mit ihr die Nostalgie und die Erinnerungen – vielleicht auch an das Kind, das wir einmal waren. Für viele bedeutet dies noch immer: Weihnachtskarten müssen sein, auch wenn während des Rests des Jahres kaum ein Stift in die Hand genommen wurde. Dies ist in allen Ländern zu beobachten, auf sehr unterschiedliche Weise.


 

Der richtige Zeitpunkt, um Weihnachtskarten zu verschicken?


Erstaunlicherweise geht es bei dieser Frage nicht allein um die Leistungsfähigkeit der Postdienste oder um die Entfernung, die die Karte bis zum Adressaten zurückzulegen hat. Vielmehr gibt es in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Gepflogenheiten, die auch viel über die Mentalität der jeweiligen Kultur verraten.

 

Deutsche Genauigkeit, Perfektion … und Modernität

Für die Deutsche Post etwa war die Weihnachtswoche in früheren Zeiten mit erheblichen Herausforderungen verbunden. Nicht zu früh und nicht zu spät sollten die Weihnachtskarten ankommen, idealerweise genau an Heiligabend … und so schickten alle ihre Weihnachtspost gleichzeitig ab – eine Mammut-Aufgabe für die Sortiermaschinen und Zusteller gleichermaßen. Diese angestrebte Pünktlichkeit kleidete sich gern in die Behauptung, man wolle damit zeigen, wie wichtig einem der Empfänger sei, doch getäuscht hat diese Aussage kaum. Tatsächlich spielte auch ein anderer, weniger edler Faktor eine möglicherweise weit größere Rolle: Es ging nicht zuletzt darum, die eigene organisatorische Perfektion und Zuverlässigkeit zu demonstrieren – deutsche Qualität eben.Die Rettung bot in Deutschland natürlich – wie könnte es anders sein – die moderne Technik: Mit E-Mail und WhatsApp erübrigte sich die Frage nach einer komplizierten zeitlichen Planung und die Pflicht und Kür der Weihnachtsbotschaften ließen sich endlich stressfrei und zielgerichtet steuern, was im beruflichen wie im Privatleben nur zu gern angenommen wurde.In den letzten Jahren hat dies zu neuen Entwicklungen geführt: Karten sind seltener geworden, doch die Grüße zum Jahresende werden immer früher verschickt. Schließlich geht es nunmehr darum, der viel beachtete Erste zu sein …

 

Großbritannien: Begleitung durch die Adventswochen

Weihnachtskarten führen Menschen und Gefühle zusammen. In Großbritannien nehmen sie deshalb einen ganz besonderen Platz ein und werden vorzugsweise früh im Dezember verschickt, denn sie haben eine vielfältige Funktion: Sie sollen Zuneigung und Wertschätzung zeigen, dem anderen bewusst machen, dass er in den Gedanken des Absenders präsent und ihm wichtig ist. Die wohlgewählten und selbst im professionellen Austausch oft überraschend warmherzigen Worte, die sich zu dieser Zeit des Jahres ausnahmsweise von der legendären britischen Zurückhaltung, ja Distanziertheit befreien, sollen die Adressaten nachhaltig begleiten. Zugleich sind die Karten Teil der Weihnachtsdekoration und werden liebevoll auf dem Kaminsims oder auf einer Schnur aufgereiht. Diese Tradition ist sozial ein zweischneidiges Schwert und spiegelt die im Alltag auch heute dominante Aufspaltung zwischen Ober- und Unterschicht(en). Wer viele Karten bekommt, beweist seine gesellschaftliche Stellung, sein menschliches Ansehen, sein Engagement in seiner Gemeinschaft, seinen beruflichen und privaten Erfolg und – zeitgemäßer ausgedrückt – die Bandbreite seines Netzwerkes.

 

Frankreich: Es hat keine Eile

Weihnachtskarten waren nie wirklich Teil der französischen Kultur, denn Weihnachten ist dort das Fest der Kinder, die sich naturgemäß für Karten weniger interessieren als für Geschenke. Eine Ausnahme bildeten die beiden Weltkriege: Früh im Dezember versuchten Väter, die nicht sicher sein konnten, für die Feiertage Fronturlaub zu bekommen, oder gar in einem Gefangenenlager auf bessere Tage hoffen mussten, Postkarten an ihre Lieben zu schicken, auf die sie selbst (oder künstlerisch begabtere Leidensgenossen) weihnachtliche Motive zeichneten. Mit Kriegsende verlor sich diese Angewohnheit und Weihnachtspost als solche verschwand.Zwar erhielten einige Kinder von ihren Großeltern manchmal Weihnachtskarten, doch die Regel wurde es nie. Üblich ist das pflichtmäßige Versenden von Neujahrswünschen. Pünktlichkeit spielt hier allerdings nicht die geringste Rolle, Überpünktlichkeit wird dagegen nicht gern gesehen: Dass die Korrespondenz vor dem 1. Januar ankommt, sollte vermieden werden. Im Gegenzug hat man den ganzen Januar Zeit, um andere wissen zu lassen, dass man ihnen für die kommenden zwölf Monate alles Gute wünscht.

 

 

Weihnachtskarten-Typen aus aller Welt


Ebenso vielfältig wie die Ansichten zum Thema „richtiger Zeitpunkt“ sind die Weihnachtskarten-Motive und ihre Verwendung.

 

USA: Geschichtliches Erbe trifft Neon-Lifestyle

In den Vereinigten Staaten zeugen Weihnachtskarten-Traditionen von einem sehr lebendigen Gespür für eine noch präsente, da junge Geschichte: Auch hier werden sie sehr früh verschickt, und dies hat sowohl mit der Übernahme britischer Bräuche im Zuge der Immigrationswellen zu tun als auch mit der Tatsache, dass die riesigen Entfernungen von einer Kontinent-Seite zur anderen die Zustellung von Korrespondenz lange Zeit zu einem Spielball des Zufalls machte. Die Kommunikation mit Verwandten war spärlich und erschwert, und so wurde sich zumindest um die Weihnachtszeit besonders darum bemüht.Eben darin ist auch die Gewohnheit begründet, als Weihnachtskartenmotiv ein jedes Jahr neu aufgenommenes Familienfoto zu verwenden. Bis zur Einführung der Videotelefonie und später des Smartphones war dieses jährliche Familienporträt über viele Jahrzehnte die einzige Möglichkeit, Verwandten und Freunden zu zeigen, dass es einem gut ging, wie Kinder und Leben sich entwickelt hatten, schlichtweg: sich wiederzusehen.Doch wäre es im Land der knalligen Neon-Dekorationen und der geschmacklich mitunter nachdenklich stimmenden Weihnachtspullover verwunderlich, wenn nicht auch hier die gute Laune das Zepter übernommen hätte: Beliebt ist es, dass sich die ganze Familie anlässlich dieses Fotoshootings wie zu einer Themenparty verkleidet und Weihnachten so eine ganz persönliche Note verleiht. Auch Klamauk ist erlaubt.

 






Deutschland: von den 2 „B“s zur Political Correctness

In früheren Zeiten war Deutschland im Bereich Weihnachtskarten im Ausland für die 2 „B“s berühmt: Besinnlichkeit und Bastelei waren das Motto. In keinem anderen Land wurde die eigene Kreativität in der Adventszeit so gern und so ausgiebig ausgelebt. Weihnachtskarten selbst zu gestalten, war nicht nur wirtschaftlich von Vorteil, sondern auch ein Beweis von Zuneigung. So sollte dem Adressaten gezeigt werden, dass man bereit war, für ihn Mühe, Zeit und individuelle Gedanken zu investieren, dass er einem das wert war. Die Adventswochen hierfür zu nutzen, trug dazu bei, die weihnachtliche Besinnlichkeit auszukosten – ein Begriff, den es in keiner anderen Sprache gibt. Daraus erwuchs ein ganzer Markt, der heute noch sehr lebendig ist.Aber auch religiöse Motive spielten über Jahrzehnte eine Hauptrolle.In den letzten Jahren aber sind die bevorzugten Weihnachtskarten-Themen zunehmend abstrakter geworden. Das Bewusstsein, dass insbesondere im Geschäftsleben der Empfänger nicht notwendigerweise Christ sein muss, hat auch die Weihnachtskartenindustrie dazu bewogen, umzudenken. Die Motive werden neutraler und dass sie „weihnachtlich“ sind, ist oft nur noch an der Farbauswahl zu erkennen. Ebenso werden Fotografien von Winterlandschaften immer beliebter, weil sie niemanden verletzen können.

 


Bonne Année Rotkehlchen auf Zweig im Schnee


Frankreich: Weiß ist die Weihnacht?

Sind eigentliche Weihnachtskarten in Frankreich eben eher die Ausnahme als die Regel, so kann für die Neujahrskarten, die an ihre Stelle treten, jedoch zwischen zwei Lagern unterschieden werden, in denen beiden die Farbe Weiß eine zentrale Rolle spielt. Gekauft werden nur sehr wenige Neujahrskarten. Diese sind dann für ausgesuchte Menschen gedacht, zu denen eine sehr enge Bindung besteht, etwa zwischen Großeltern und Enkelkindern oder aber – erstaunlicherweise – zwischen „BFF“ im Teenager-Alter. Winterlandschaften mit Rotkehlchen, Stechpalmen und Mistelzweigen dürfen in diesem Fall nicht fehlen. Fotografien von schneebedeckter Natur und schneeumhüllten, malerisch beleuchteten Dörfern und Kapellen sind die modernere Alternative.

Ein Grund für den Kauf von gestalteten Neujahrskarten ist in der Regel das Fehlen eines Accessoires, das eigentlich jeder Franzose spätestens ab dem 18. Lebensjahr (oft früher) und mindestens bis zur Rente (oft später weiterhin) besitzt: die mit Namen und Adresse bedruckte Korrespondenzkarte. Bis zum Ende der 1980er Jahre handelte es sich dabei um eine Visitenkarte: Das französische Format von Visitenkarten war erheblich größer als in anderen Ländern und ermöglichte es also ohne Weiteres, die üblichen Neujahrsfloskeln unter den Namen zu setzen. Für besondere Empfänger, denen ein längerer Text zugedacht war, konnte zur Not die Rückseite genutzt werden. Nachdem die Visitenkartenformate europaweit zugunsten der kleineren (in Frankreich „deutsch“ genannten) Variante vereinheitlicht wurden, wurde zur zweitbesten Lösung gegriffen: Die Korrespondenzkarte im A6-Format, die klein genug ist, um nicht viel schreiben zu müssen.

 

 

Weihnachtskarten-Kuriositäten


Skandinavien: Nichts ist wichtiger als Weihnachtskarten

In den skandinavischen Ländern sind Weihnachtskarten von ungeheurer gesellschaftlicher Bedeutung. Jedes Jahr wird in der überregionalen Presse nach den Feiertagen gemeldet, wie viele Weihnachtskarten verkauft bzw. verschickt wurden, und diese Zahlen werden mit Argusaugen beobachtet und bewertet. Als in Finnland 2020 der Verkauf auf 18 Millionen Karten abstürzte, nachdem er über Jahrzehnte regelmäßig 50 Millionen betragen hatte, wurde von einer nationsweiten Kulturkrise gesprochen, die das Ende der Zivilisation einleiten könne. TV-Sondersendungen mit Talkrunden wurden ausgestrahlt, diese Entwicklung war in jedem Straßengespräch Thema. Zudem ist die Religionszugehörigkeit und die eigene Einstellung zu Weihnachten in Skandinavien absolut irrelevant: Weihnachtsgrüße zu verschicken ist eine nicht verhandelbare Höflichkeit, der sich auch Muslime, Atheisten, Buddhisten, Extremrechte und Extremlinke gleichermaßen gerne beugen. Jemanden zu vergessen ist ein unverzeihlicher Fauxpas und erschwert von da an die soziale und berufliche Interaktion und das gesellschaftliche und berufliche Fortkommen merklich. Die Karten werden nach den Feiertagen übrigens keineswegs weggeworfen, sondern über viele Jahrzehnte sorgfältig aufbewahrt.

 

In aller Welt beliebt: Mit Weihnachtskarten etwas Gutes tun

In allen Ländern gleichermaßen gerne gekauft werden Karten von karitativen Organisationen. Es gibt nichts, was es nicht gibt: Kinder, Natur, Menschen mit Behinderung, soziale Projekte, Entwicklungsmaßnahmen, Tierschutz … jeder kann sich das Thema aussuchen, das ihm am Herzen liegt und er unterstützen möchte. Das gute Gefühl, mit dem Kauf von Karten etwas Gutes zu tun und das Nützliche mit einer Spende zu verbinden, gehört für viele zu den Adventritualen, die Gewissen oder Karma stillen. Dies ist auch eine Möglichkeit, demonstrativ zu zeigen, wofür man thematisch steht. Interessanterweise zeigen Umfragen, dass nicht alle Empfänger gern eine solche Karte bekommen – sei es, weil sie mit dem jeweiligen Zweck nicht einverstanden sind oder die getroffene Wahl als übergriffig betrachten, sei es, weil sie den Eindruck haben, mit einem vermeintlichen Werbegeschenk „abgespeist“ worden zu sein, sei es, weil sie die Wahl als nicht individuell genug und somit gedankenlos ansehen. Mehrheitlich aber wird dem Absender vorgeworfen, er habe nur vorführen wollen, dass er ein großzügiger und selbstloser Mensch sei, und sich damit überhöhen wollen.

 

Auch in Zeiten von Smartphone und Internet bleibt das Thema Weihnachtskarten also allerorts ein viel diskutiertes. Und eine globalisierte Sicht der Dinge mit vereinheitlichten Verhaltensmustern ist noch lange nicht zu erwarten. Weiterhin wird jede Kultur für sich entscheiden, was eine gute Weihnachtskarte für sie ist.

 

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