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AutorenbildMartina Schmid

Frühstück und kulturelle Vielfalt


Croissants auf dem Tisch


Es ist ein alter Aberglaube, der in allen Kulturen zu beobachten ist, und dem selbst wenig animistisch geneigte Menschen auch unbewusst verfallen können: Wenn der Morgen mit einem angenehmen Erlebnis beginnt – ob es sich dabei um eine gute Nachricht, eine positive Überraschung oder einfach nur um die Tatsache handelt, dass die Sonne lacht und die Vögel zwitschern –, gibt es uns ein gutes Gefühl und wir sind schnell und gern der Überzeugung, dass dies ein gutes Omen sei und uns alles gelingen könne. Zu einem guten Start in den Tag gehört für viele auch deshalb das „richtige“ Frühstück. Doch was hier „richtig“ ist, ist nicht nur individuell, sondern auch traditionell regional unterschiedlich.



Kontinental? Das Frühstück als interkulturelles Missverständnis

Das Vereinigte Königreich ist flächenbezogen nicht gerade eines der größten Länder der Welt, doch hat sein kulturelles Selbstbild als Inselstaat einen Begriff geprägt, der in der Hotelbranche zu einem Standard geworden ist: Für die Briten ist der Rest Europas als Ganzes einfach „der Kontinent“, und ein kontinentales Frühstück ist schlicht allgemein das, was dort morgens verzehrt wird und in krassem Gegensatz zu einem aus warmen und reichhaltigen Speisen wie Baked Beans, Spiegelei, gebratenen Tomaten, Speck, Bratwürstchen oder heißem Porridge bestehenden englischen Frühstück steht. Das Missverständnis könnte kaum größer sein.

Tatsächlich gibt es genauso wenig „das“ europäische Frühstück, wie es eine einheitliche europäische Sprache gibt. Entstanden ist diese Bezeichnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als reiche und gebildete Angelsachsen wie F. Scott Fitzgerald, Somerset Maugham oder Ernest Hemingway die französische und italienische Riviera als mondänen Ort der Sommerfrische entdeckten. Nach dem „Pars pro Toto“-Prinzip und aus kultureller Unwissenheit wurde aus den Frühstücksgewohnheiten in diesen beiden Ländern so verallgemeinernd geschlussfolgert, dass alles, was nicht deftig englisch war, „kontinentales Frühstück“ genannt wurde. Weil gerade jene Briten im Grunde das erfanden, was wir heute als Tourismus kennen und eine ganze Industrie nach sich ziehen sollte, bürgerte sich das Wort schnell ein und wird aus Gewohnheit heute noch weltweit verwendet.

Dabei gibt es in der Art, wie die einzelnen Länder Europas ihre Vorstellung von Frühstück übersetzen, sehr große Unterschiede – und selbst das englische Frühstück zeigt vielfältige Facetten.


Schnell und süß

Wenn Urlauber oder Austauschschüler aus dem deutschsprachigen, nordeuropäischen oder skandinavischen Raum zum ersten Mal mit den Frühstücksgewohnheiten in Italien oder Frankreich konfrontiert werden, reagieren sie oft mit staunendem Unverständnis: Ausgerechnet in den beiden Ländern, die als gemeinsame Begründer der höchsten Kochkunst, die die Welt zu bieten hat, und Inbegriff von Lebensart und stilsicherer Eleganz gelten, ist morgens hastiges „Schlingen“ angesagt. In Italien werden Espresso und Cappuccino, der übrigens ohne jede vom Barista gezauberte Herzchenverzierung serviert wird, auf dem Weg zur Arbeit im Stehen an der Theke heruntergestürzt – lediglich Hausfrauen und Schulkinder frühstücken zu Hause –, feste Nahrung bildet ein mit Konfitüre oder Nougatcreme gefülltes Cornettooder Brioche. Auch in Frankreich hat man es eilig, in den Tag zu kommen, und dies geschieht bei weitem nicht so oft mit Croissants, Pains aux raisins, Brioches oder Pains au chocolat, wie die Klischees es gerne hätten. In Wirklichkeit sind diese Köstlichkeiten eher entweder dem Sonntags-Frühstück, der Urlaubszeit oder dem kleinen Imbiss zwischendurch vorbehalten. Viel häufiger wird ein langes Stück Baguette mit Butter und/oder Konfitüre bestrichen und in den Kaffee oder den Café au lait getunkt. Der Zeitdruck ist morgens groß und nicht selten wird zwischen Tür und Angel und halb im Stehen gegessen.



Wo zuvor nie ein Brot gewesen ist …

In den Ländern Ostasiens ist Brot keine Selbstverständlichkeit und schlich sich erst im 20. Jahrhundert, teilweise dann sogar noch recht spät und zaghaft, in die Essgewohnheiten ein. Findet es insbesondere in den Metropolen und im Zuge der Globalisierung und eines zunehmenden touristischen Austauschs insbesondere bei Singles und Älteren immer größeren Zuspruch, so wird es nach wie vor wenig mit dem Frühstück in Verbindung gebracht: Heiße Miso-Suppen in Japan, Reis-Porridge-Varianten wie Congee in China oder Chok in Thailand bleiben die traditionelle Art, in den Tag zu starten. Was im Winter durchaus als angenehm empfunden wird, mag den europäischen Touristen angesichts der heißen und sehr schwülen Sommer in diesem Teil der Welt verwundern, doch beruht diese Praxis im Gegenteil auf einer gesundheitlich sinnvollen Logik: Die klaren Brühen und Reisgerichte enthalten dank Zugabe von Würzpasten, Soja-, Fisch- und Austernsaucen relativ viel Salz, was den Mineralstoffverlust durch starkes Schwitzen ausgleicht.


Von Hafer bis Koriander: Frühstückstraditionen als Kapitel eines Geschichtsbuchs

Viele Frühstücksgewohnheiten, die wir als typisch empfinden, entstehen schlicht aus dem Angebot, das sich in einem Land aus Natur und Geschichte ergibt.


Skandinavien und Nordeuropa bieten für den Anbau von Hafer und den Fischfang seit jeher die besten Bedingungen. So entstand eine Reihe von Frühstücksgerichten, die die jeweilige Interpretation der gesunden Cerealien sind: Haferbrei mit Skyr in Island, Haferknäckebrot mit Hering, Lachs und Kaviar, Havregrynsgröt oder Haferflocken mit Sauermilch in Schweden, Puuro in Finnland – und Porridge in Großbritannien.



Porridge mit Apfel in einer Schale


Das traditionelle indische Frühstück führt uns viele Jahrhunderte, in die Vergangenheit der Gewürzstraße zurück, als Schiffe aus fernen und sehr fremden Ländern mit Kardamom, Zimt, Pfeffer, Vanille, Koriander beladen über die Weltmeere kreuzten. In jeder indischen Familie, aber auch an Straßenständen wird zum Frühstück der Masala Chai serviert, bei dem Schwarztee, Zucker, Gewürze und Milch zusammengekocht werden.


In den USA spiegelt das Frühstück das wider, was das Land zu sein begehrt: Als Schmelztiegel der Kulturen hat es unendlich viele Frühstückstraditionen verinnerlicht und in die eigene kulinarische Sprache übertragen. Südamerikanische Einwanderer brachten den Mais, aus dem Corn Flakes entstanden; French Toast, eigentlich eine Interpretation des kanadischen Pain perdu durch Joseph French, zeugt ebenso von dem internationalen Erbe des Landes und von der Vielfalt seiner Bevölkerung und ihrer Wurzeln wie Pancakes (nach dem deutschen Pfannkuchen) mit Schokostreuseln (eine holländische Frühstücksangewohnheit), Waffeln (nach einem belgischen Rezept), Rührei, Bacon und Baked Beans (gemäß dem englischen Vorbild), Porridge (aus Irland), Muffins, den Buttermilk Biscuits (eigentlich Scones), den Hashbrowns genannten Röstis oder den Danishs, ein dänisches Plunderteilchen, das überraschenderweise Österreicher in die USA einführten. Aber das amerikanische Frühstück spiegelt auch die Werte des Landes und die Bedeutung von Geld wider: Die Üppigkeit der Eggs Benedict erinnert an den beruflichen Erfolg ihres Namensgebers – auch wenn hier die Geschichte, die sich auf jeden Fall im Jahre 1894 in einem New Yorker Hotel zutrug, nicht lückenlos belegt ist und nicht restlos geklärt ist, ob der vom ewigen Frühstückseinerlei gelangweilte Financier LeGrand Benedict oder der der Legende nach regelmäßig von einem bösen Kater geplagte Börsenmakler Lemuel Benedict hierfür Pate stand. Ähnliches ist übrigens in Australien zu beobachten, das beim Thema Frühstück ebenfalls seine diversen Wurzeln als Einwanderungsland verrät.

Zwischen süß und deftig: Vielfalt an gesellschaftlichen Interpretationen Geschichtliche Hintergründe, geografische und klimatische Gegebenheiten und unterschiedliche Geschmackskulturen sind nicht der einzige Grund dafür, dass eine Weltreise durch Frühstückstraditionen fast endlos sein könnte. Auch die Struktur der Gesellschaft und der Arbeitswelt spielt eine Rolle. Spanien – daran ändert die Siesta nichts, die zu anderen Zwecken genutzt wird – und Deutschland verbinden oft lange Arbeitsstunden ohne nennenswerte Nahrungszufuhr. Warm und ausgiebig gegessen wird in beiden Ländern mehrheitlich erst abends, und so wird das Frühstück als langfristiger Energielieferant zur wichtigsten Mahlzeit des Tages. Aufs Brot, auf die Tostadas oder das Bocadillo kommen deshalb herzhafte Zutaten: Käse und Aufschnitt im deutschsprachigen Raum, jenseits der Pyrenäen Tomaten mit Olivenöl, Avocado oder Jamón. Und doch ist auch Süßes am Morgen beiden Kulturen nicht fremd: Magdalenas und Churros zum Desayuno, Konfitüre oder Honig auf Toast oder Brötchen, oder etwa Rosinenbrot zum Frühstück. Das englische und das portugiesische Frühstück weisen ebenfalls Gemeinsamkeiten auf, wobei hier die Unterscheidung zwischen süß und deftig bei aller Political Correctness als sozialtypisch bezeichnet werden darf. Marmelade auf Toast, Scones und Gebäck sind ebenso wenig dazu geeignet, schwere körperliche Arbeit zu unterstützen, wie süße Hefehörnchen, Bolo de arroz oder Pão de deus. Porridge und das traditionelle und reichlich handfeste Full English Breakfast oder auf der iberischen Halbinsel Tortilla de patatas und Chorizo-Omelett kommen als Grundlage für einen anstrengenden Tag im Stahlwerk oder in der Olivenplantage schon eher in Frage.


Ham and Eggs auf einem Teller mit Toast



Diese Reise durch die Kontinente zeigt uns viele Parallelen und viele Unterschiede, sie zeigt, was uns verbindet und was uns trennt. Ursprünglich ähnliche Zutaten werden anders interpretiert und wirken dadurch fremd und vertraut zugleich, wie Worte und Silben in einem fremdsprachlichen Text etwa. In jedem Land geschieht jeden Morgen das Gleiche: Menschen nehmen die erste Mahlzeit des Tages zu sich. Und doch haben sie eine eigene Art, dies zu tun, die in ihrer Denkweise, in ihrer Vergangenheit und Geschichte, in ihrem sozialen und geografischen Kontext verankert ist. Auch hier gilt es zu erkennen, dass – jenseits von Klischees, politisch korrekter Gleichmacherei und Globalisierung – Werte und individuelle kulturelle Identitäten weiterhin Bestand haben und die Welt bereichern, in der wir leben. Diese zu vermitteln, vermögen Kochkunst und Übersetzung gleichermaßen.

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