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Brot – Spiegel von Kulturen und Veränderungen

Autorenbild: Martina SchmidMartina Schmid


verschiedene Brotsorten auf Tisch mit einem Bund Getreide


Es ist sicherlich das erste Wort, das uns einfällt, wenn wir auf die Frage nach dem einfachsten und grundlegendsten Lebensmittel antworten sollen: Brot. Und doch ist der Begriff „einfach“ hier ganz und gar missverständlich. In Wirklichkeit hat sich die Bedeutung des Brotes im Verlauf der Wechselfälle der Geschichte immer wieder verändert und sie ist auch heute weniger allgemeingültig, als wir es vielleicht denken könnten.



Identität durch Brot: andere Länder, andere Brote

Tatsächlich ist das Brot ein Spiegelbild der Vergangenheit, der Mentalität und der Esskultur einer jeden Nation. Gerade weil es sich um ein grundlegendes Produkt des täglichen Bedarfs handelt, ist es immer Ausdruck dessen, was dem jeweiligen Land, ja der jeweiligen Region wichtig ist.


Deutscher Stolz

Im deutschen Sprachraum etwa sind Vielfalt und Gesundheit, wenn es um Brot geht, äußerst wichtig. Aus Reiseführern, Schulbüchern und Info-Websites wissen ausländische Besucher schnell, wie stolz Deutschland auf seine 3000 Brotsorten ist, von denen etwa 300 täglich verkauft werden. Getreidearten, Verarbeitung mit der Nutzung des ganzen Korns oder zumindest vieler Teile davon sind nicht nur die Garantie für ein breites Spektrum an unterschiedlichen Geschmacks- und Texturvarianten, sondern gelten auch als entscheidend für eine gute Zahn-, Darm- und Herzgesundheit. Brot ist in Deutschland eine ernste Sache, und es gibt sogar ein deutsches Brotinstitut.



Baguettes im Weidenkorb

Das Baguette als Nationalsymbol


Dass Frankreich sein typisches Brot als identitätsstiftend auffasst und einen ähnlichen Stolz für die Brotstange empfindet, die neben Rotweinglas, gestreiften Seemannspullover, Baskenmütze und „Ente“ in keinem klischeehaften Cartoon fehlen darf, wurde spätestens 2021 jedem klar, als der französische Staat die Aufnahme des Baguettes als immaterielles Kulturerbe der UNESCO beantragte.




Fladenbrote


Stapelweise Fladenbrote

In anderen Ländern wird vielleicht weniger auf theoretischer Ebene identitär nachgedacht, doch das Fladenbrot, das in Kleinasien, auf der arabischen Halbinsel oder in Afrika zu Hause ist, ist als Teil des Straßenbildes in diesen Regionen für den Besucher aus Amerika oder Westeuropa ein ebenso starkes und einordnendes kulturelles Signal. Papadam, Yufka, Malsouka oder Naan sind uns inzwischen ein vertrauter Anblick und wir verbinden sie in unseren Vorstellungen spontan mit den typischen Verkaufständen, Geräuschen und Gerüchen aus warmen, sonnigen Gefilden. Auch maisgoldene Tortillas aus Südamerika sind ein goldenes Sinnbild von Urlaub und Fernweh.


Brot als Rarität

Andere Kulturen wiederum zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen Brot fremd ist und sie es höchstens in ihrer neueren Geschichte als exotisches Importprodukt entdeckt und zaghaft angenommen haben. Japan etwa kennt traditionell kein Brot im eigentlichen Sinn, wenn auch Brötchen, die an Hamburger- oder Hotdog-Brötchen erinnern, sowie eine Art Toast- und Milchbrot durchaus verwendet werden. Erst in den 1950er Jahren öffnete sich die japanische Küche dem Thema Brot. Eine zu dunkle Oberfläche allerdings bringt in der japanischen Vorstellung Unglück, bemehlte Brote werden des Schimmels verdächtigt, weshalb es Produkte aus Sauerteig und Roggen und insbesondere deutsche Brote lange Zeit schwer hatten, Fuß zu fassen, und amerikanischen, englischen und französischen der Vorzug gegeben wurde. Durch eine behutsame Vermittlungsarbeit, aber auch durch Anpassung und Übersetzung der Rezepturen in die Geschmackskultur des Ziellandes gelang es deutschen Bäckern in diesem Jahrhundert schließlich, eine kleine Gemeinde von probierfreudigen Kunden an sich zu binden. Doch bleibt Brot ein nicht zentrales Lebensmittel, das die Vorherrschaft von Reis und Nudeln als Stärkebeilage nicht bedroht.



Brot dazu, dabei, darunter … oder Hauptsache?

Auch die Art, wie und wann Brot gegessen wird, sagt viel über die Kultur des jeweiligen Landes aus. Von Deutschland bis Madagaskar: Brot als Pfeiler des Alltags Während in Deutschland etwa Brot als Hauptbestandteil bestimmter Mahlzeiten betrachtet wird, wie sprachlich unmissverständlich in den Wörtern „Abendbrot“ oder „Brotzeit“ zu sehen ist, ist es in vielen Regionen der Welt gleichzeitig notwendiger, allerdings wenig beachteter Sattmacher und Werkzeug zugleich: Fladenbrote dienen vom Maghreb bis Madagaskar oder in Indien nicht zuletzt als Teller und Besteck.

Frankreich: verspielt und kokett Baguette ist in den meisten französischen Familien – viel häufiger übrigens als das sprichwörtliche Frühstückscroissant – die Grundlage eines jeden Starts in den Tag und wird gern mit Butter und/oder Konfitüre bestrichen oder auch ohne Belag in den Morgenkaffee oder -milchkaffee getaucht. Als Snack stillt es, auf dem Weg vom Bäcker nach Hause frisch abgebissen oder abgerissen, den kleinen Hunger zwischendurch und ist mit Pâté, gekochtem Schinken und Käse oder Camembert belegt der Reiseproviant par excellence. Zu den Mahlzeiten begleitet es hauptsächlich Käse und dient zur Aufnahme von Soßen und Speiseresten vom Teller. Brot als „Mahlzeit“ zu bezeichnen, fiele unseren französischen Nachbarn allerdings nicht ein.



Von der Römerzeit bis heute: Italiens Brote als Tradition und Lebensart

Viele Rezepturen der Brote, die auf antiken Fresken oder Mosaiken zu sehen sind, wie Focaccia oder Bruschetta, haben mit wenigen Anpassungen und Änderungen bis heute Bestand und sie spiegeln das wider, was die italienische Kochkultur ausmacht: Die Kunst, aus einfachsten Zutaten delikate, raffinierte und erlesene Geschmackserlebnisse zu zaubern, die niemals zur Nebensache werden. Auch die neueren Entwicklungen aus der Renaissance oder das erst in den 1980er Jahren erfundene Ciabatta sind dieser Kultur treu: Ob als Fladen, Stange oder Laib – das Brot ist nie nur Begleiter oder Unterlage, sondern immer selbstbewusster Partner anderer Speisen, die nur mit ihm die gewünschte Harmonie erzielen.



Bruschetta mit Tomaten und Basilikum auf Holzbrett



Das Brot im 21. Jahrhundert – Verlust einer Lebensart?


So reizvoll und malerisch eine Reise durch die Welt der Brote erscheint, so ist die Schönheit und Vielfalt der Brotkulturen durchaus Bedrohungen ausgesetzt.


Gesteigertes Gesundheitsbewusstsein

Galt die Aufnahme von Kohlenhydraten lange Zeit unhinterfragt als lebenswichtige Hauptenergiequelle, wird sie in unserer Gesellschaft nicht zuletzt aufgrund der Veränderungen unserer Lebensweisen hin zu weniger körperlicher Belastung und immer weniger Bewegung auch in der Freizeit nun kritisch betrachtet. Low Carb wird als sinnvolle Alternative für Figur und Wohlbefinden und zur Vorbeugung von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Krebs propagiert, und Bäcker sehen sich angeregt, ungewohnte Wege zu beschreiten und ihr Sortiment um Eiweißbrot und andere stärkereduzierte Varianten zu erweitern. Ebenso wird Gluten mittlerweile für einige Allergien oder Unverträglichkeiten verantwortlich gemacht, was zur Entstehung eines kompletten neuen Angebots führte.


Wirtschaft und Brot

Die größte Gefährdung für die Vielfalt und die Qualität der Brotkultur ist jedoch wirtschaftlich bedingt. Nicht nur in Produkten von Großbäckereien für den Supermarktverkauf oder bei Franchising-Ketten wird auf Fertigware gesetzt, sondern auch immer mehr unabhängige kleine Bäckereien verzichten darauf, Teig selbst anzusetzen, und greifen auf industriell produzierte Rohlinge oder Schnellbackmischungen zurück. Dies ermöglicht eine deutlich kürzere Ruhezeit des Teiges, weniger Personalbedarf, weniger Energiekosten und somit eine höhere Rentabilität … und geht allerdings zu Lasten des Geschmacks, der weltweit zunehmend einheitlicher und blasser wird.


Parallelgesellschaften in der Brotkultur

Tatsächlich ist zu beobachten, dass sich zwei Brot-Lifestyles entwickeln, die kaum Berührungspunkte aufweisen: Neben dem unreflektierten Konsum minderwertiger Massenbackwaren, die zu gedankenlos verschlungenen Sattmachern verkommen, und der damit einhergehenden Einebnung des Geschmacks und der Esskultur, gibt es eine Chance für wirklich handwerklich hergestellte Brote: Sie werden als etwas Besonderes, Echtes, als ein hochwertiges Vergnügen für Kenner und Gourmets wahrgenommen, die bereit sind, diese unvergleichliche Qualität mit einem höheren Preis zu honorieren. Gleichzeitig befeuern Nostalgie, Interesse und Sorge um Inhaltsstoffe und Gesundheit neue Trends: Immer mehr Verbraucher möchten ihr Brot selbst backen, mahlen ihr Mehl mitunter selbst, belegen Kurse und kaufen Bücher zu diesem Thema. Brot ist nunmehr auch Teil von Tourismusangeboten und entsprechenden Blogs. Das gute, authentische, handwerkliche Brot ist also wieder im Kommen, es ist sogar „schick“ geworden, wenn es auch – aber dies gilt ebenso für alle Facetten der gehobenen Lebensart und der edlen Kochkunst – nicht für alle erschwinglich sein wird.


Großer Laib Brot auf einem Holzbrett

Brote bilden ein faszinierendes Themenfeld, und sie sind in dieser Hinsicht der Übersetzungsarbeit nicht unähnlich. Sie begleiten uns seit Anbeginn der Geschichte, sind das Spiegelbild unserer Gewohnheiten und Mentalitäten, von Moden und Zivilisationen, und machen mit einem vermeintlich einfachen, jedoch unentbehrlichen Produkt deutlich, wie feinsinnig, prägend und entscheidend die Unterschiede zwischen Ländern und Kulturen sind. Sie sind auch Kommunikation und Austausch, wenn um den gemeinsamen Tisch versammelt ein Laib angeschnitten und belegt wird, ein Büffet Gäste um sich schart. Jedes Land übersetzt mit den gleichen Zutaten, Mehl, Wasser, Hefe und Öl, seine Vorstellung eines köstlichen Grundnahrungsmittels. Auch sie erleben zur Zeit den Bruch zwischen geschmacksfreier und gesichtsloser Massenware und erlesener Qualität, und wie gute Texte auch werden sie manchmal unterschätzt, obwohl sie ein unersetzlicher Teil unseres Bekenntnisses zu Lebensart und Exklusivität im Alltag sind.


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