Es mag nach einer Binsenweisheit klingen, und doch: Einen Gast zu empfangen ist ein sehr persönlicher Akt. Für manche sind damit hektische und nervöse Vorbereitungen verbunden, für andere ist es eine Routine, über die nicht weiter nachgedacht werden muss. Natürlich hängt dies von verschiedenen Faktoren ab: Ein eventuelles soziales Gefälle, Selbstbild und Selbstwertgefühl, der Wunsch nach einer eher authentischen oder eher geschickt inszenierten Selbstdarstellung können dabei eine Rolle spielen. Ein weiterer Aspekt ist aber – und dies gilt in allen Ländern und Kulturen – Fremden und Freunden gleichermaßen zu vermitteln, dass sie willkommen sind und sich wohl und ungezwungen fühlen dürfen.
Westliche Gastgeberkulturen zwischen Distanz und Vertrautheit
Sind Diele und Flur im Eingangsbereich westlicher Häuser und Wohnungen gleichzeitig Zugang und Repräsentation, so kommen sie über diese Aufgabe als Botschaft nicht sehr weit hinaus: Dekoration und Möblierung stellen ein kurzgefasstes Selbstporträt dar, der Raum an sich bleibt als Mittelweg zwischen Innen und Außen eher der Ort eines kurzfristigen Aufenthalts – sei es, weil der Besucher unwahrscheinlich über diese Grenze hinaus treten wird und dies aufgrund ungeschriebener sozialer Regeln oder Gepflogenheiten auf beiden Seiten der Tür von Beginn an klar ist, sei es, weil er notwendiger, aber nur bedingt relevanter Durchgang zu den intimeren Räumen des Hauses bleibt.
Ähnlich verhält es sich unabhängig von Größe und Standard in Hotels und Pensionen der westlichen Hemisphäre. Rezeption, Lobby, Theke sind dazu geeignet, architektonisch Verteilungs- und Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Doch auch wenn Mühe und Kreativität darauf verwendet werden, eine positive Atmosphäre zu schaffen, Entspannung und Wohlgefühl zu suggerieren, so bleibt die Beziehung des Gastes zu diesem Teil des Gebäudes oberflächlich und einseitig.
Anders in Japan.
Das Tokonoma 床の間
einfach nur schön und typisch japanisch?
Mit dem unvorbereiteten Blick des westlichen Besuchers betrachtet ist das Tokonoma, das sich im Eingangsbereich traditioneller japanischer Häuser (oder weiterhin in leicht abgewandelter Form als Tischchen-Ecke in selbst kleinen moderneren großstädtischen Wohnungen) befindet, vor allem optisch ein unverwechselbares Beispiel japanischer Ästhetik: Die puristisch eingerichtete Nische scheint eine hauptsächlich dekorative Zielsetzung zu erfüllen. Eine Bildrolle an der Wand, das Kakemono 掛け物, ein einzelnes, mittig in Szene gesetztes Objekt wie etwa ein nach dem Ikebana gestaltetes Blumenarrangement, ein Bonsai, ein Schwert, ein Erbstück oder eine andere antike Kostbarkeit, sowie kleinere symbolische Gegenstände bis hin zu Lebensmittelgaben an Ahnen oder Shinto-Gottheiten verleihen diesem Teil des Raums einen spontan als eindeutig japanisch wahrgenommenen Charakter. Wer in Suchmaschinen nach japanischen Architekturmerkmalen sucht, bekommt als Erstes Bilder von Tokonomas zu sehen.
Eine mit dem Gast geteilte Intimität
Doch die Annahme, diese kleine Nische sei nur Schmuck, Blickfang und Eisbrecher, ist ganz und gar falsch, und es wäre entsetzlich schade, daran vorbeizugehen, ohne sich ihrer Bedeutung gewahr zu sein. Das Tokonoma hat mit der westlichen Diele nichts gemein. Mit und in ihm lebt auch – und dies auf besonders intensive Weise – die japanische Familie, die den noch Fremden empfängt. Zum einen soll das Tokonoma durch seine formale Gestaltung den Gast zu sich lenken – allerdings nicht nur durch seine gefühlte Schönheit, sondern aufgrund der sehr persönlichen Gegenstände, die es dem Besucher enthüllt. Diese sind mit größtem Bedacht gewählter Ausdruck einer Botschaft des Gastgebers an den noch Fremden, der sein Heim oder seine Pension betritt, aber ebenso eines inneren, zutiefst privaten Bedürfnisses für den eigenen Alltag: Die Einrichtung des Tokonoma geht mit profunden, langen, mitunter quälenden Überlegungen einher, die immer wieder aufgegriffen und vertieft werden. Sie erfolgt nicht ein und für alle Mal und wird nicht nur gelegentlich aktualisiert. Sie wird jeden Tag aufs Neue mit der Situation in Einklang gebracht. Jahreszeiten, aber auch Geschehnisse aus dem politischen oder regionalen Leben, Wetter- und Naturereignisse, persönliche Gedenktage und vieles mehr werden in die Dekoration des Tokonoma einbezogen, das zu einem Mikrokosmos und Spiegelbild der Gedanken, Sorgen und Freuden des Gastgebers wird.
Des Weiteren wird der Gast dazu eingeladen, die Nische, wie die Bewohner oder Betreiber des Hauses es selbst täglich tun, als Ort der Meditation, zumindest des Nachdenkens zu nutzen, dort zur Ruhe zu kommen, den Tag Revue passieren und fallen zu lassen, und die Ideen zu hinterfragen, die die jeweilige Gestaltung des Tokonoma mitgeprägt haben, somit Teil an seinem Sinn und seiner Absicht zu haben, in die Welt, das Leben und das Denken des Gastgebers einzutauchen und sie zu verinnerlichen. Das Tokonoma soll berühren, anregen, einstimmen und erfreuen, aber auch durch die sinnliche Erfahrung seines Anblicks und durch Reflexion gleichermaßen bereichern.
Aus einer kleinen Nische im Raum wird mehr als nur eine charmante Dekoration des Eingangsbereichs eines Hauses. Gerade in einem Land, in dem Beziehungen eher distanziert scheinen können, ist das Tokonoma Paradoxon und Brücke zugleich und verblüfft in der tiefen persönlichen Entblößung der Privatheit und Spiritualität des Gastgebers, die es tatsächlich impliziert. Es zeigt nicht nur eine Dimension der Willkommenskultur, die kaum in westliche Werte zu übersetzen ist, sondern macht zudem deutlich, wie wichtig fundierte Kenntnisse im unmittelbaren Austausch sein können und wie aktuell das Thema der interkulturellen Kompetenz ist und bleibt, wenn es darum geht, den Anderen jenseits der Sprache wirklich zu verstehen und mit ihm wahrhaftig zu kommunizieren.
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