Papier – Washi – eine japanische Liebe
- Martina Schmid
- vor 2 Tagen
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Für den westlichen Besucher kann Japan zunächst als ein Land voller Widersprüche erscheinen. Modernster Erfindungsgeist und unerschütterliche Traditionstreue prägen Arbeitswelt und Privatleben, das Straßenbild teilen sich Cosplay und Maiko. Was verwirrend sein kann, ist tatsächlich das Ergebnis einer Symbiose, die bewusst Alt und Neu integriert und stets das Beste aus Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft überführen will.Dies erklärt auch, wie Papier in Japan sich nicht nur seinen Platz erhält, sondern im Gegenteil zunehmende Bedeutung bekommt. Es ist aus dem japanischen Alltag nicht wegzudenken und ist sogar Gegenstand einer kulturellen Verehrung, die dem Westen neue Wege aufzeigen könnte.
Washi – ursprünglich und überwältigend japanisch
Ein Wort – viele Gesichter
Handgeschöpftes Papier ist in Japan sehr viel mehr als ein Schreibmaterial im Luxussegment. Hinter dem Begriff Washi verbirgt sich eine Fülle von Papieren, zu deren handwerklicher Herstellung in einem sehr langwierigen und komplizierten Prozess aus Dämpfen, Spülen, Kochen und Sieben die Zellulose aus den Baumrinden und Fasern einer Vielzahl unterschiedlicher Bäume und Sträucher extrahiert wird. Gampi etwa entsteht aus dem Seidelbaststrauch, Kozo aus dem Papiermaulbeerbaum, Mitsumata wiederum aus einer anderen Seidelbast-Art – und dies sind nur drei der mehrere Dutzend Washi-Sorten, die in Japan erhältlich sind. Regionale Herstellungsvarianten sorgen für unterschiedliche Eigenschaften: Einige Papiere eignen sich als Baustoff zur Herstellung von Trennwänden (Shōji) und Schiebetüren, andere sind so zart, dass sie die unsichtbare Reparatur von alten Büchern ermöglichen, weitere werden von Künstlern und Kalligraphen genutzt.
Papier wird selbst zu Kunst
Kann Washi durch seinen unterschiedlichen Charakter Grundlage für die vielfältigsten Zeichen- und Maltechniken werden, so geht die Liebe der Japaner noch viel weiter. Papier wird zur Kunst: Nicht durch seine Nutzung, sondern durch die Reflexion über das Material und seine Entstehungsprozesse selbst – Papier als Kunst um der Schönheit willen.Die Werkstatt von Hamado Hironao etwa ist nicht nur eine Papiermühle. Seine Leidenschaft lässt Papiere entstehen, die für sich als Kunstwerk stehen können und eine ganze Philosophie widerspiegeln, die den Sinn von Papier und die Ursprünge seiner ästhetischen Wahrnehmung aktiv ergründet.
Die in Japan lebende amerikanische Künstlerin Sarah Brayer wiederum widmet sich seit über 40 Jahren der Erforschung der Schönheit und spirituellen Ästhetik von Washi, indem sie in Kooperationen mit Papiermühlen traditionelle Herstellung und gestalterische Ansätze unermüdlich ausprobiert und so Wege des Dialogs und der künstlerischen Übersetzung erschafft.
Papier als Schulung des Geistes
Schon für die ganz Kleinen ist Papier allgegenwärtig, und hierbei ist bei weitem nicht nur von Schulbüchern und -heften die Rede. Papier und Erziehung gehen in Japan Hand in Hand.
Origami – mehr als ein Hobby
Kinder in Japan lernen schon im Grundschulalter die Kunst des Papierfaltens, wobei das Wort „Kunst“ hier fast fehl am Platze ist. Die primäre Absicht ist der Erwerb charakterbildender Fähigkeiten: Selbstdisziplin, Konzentration, Geduld und Genauigkeit, Liebe zur Perfektion, die im japanischen Alltag und im Arbeitsleben eine große Rolle einnehmen werden, werden auf diese Weise vermeintlich spielerisch vermittelt. Doch es geht auch um mehr: So werden die Schüler an das herangeführt, was seit jeher und bis heute die japanische Weltanschauung ausmacht. Sie verinnerlichen auf diesem Wege, was Ästhetik bedeutet, entwickeln ein Bewusstsein für Traditionen und ihren Wert in der Gesellschaft und finden nicht zuletzt zu einem wichtigen Aspekt der japanischen Spiritualität, der Meditation.

Kalligraphie ist keine Option
Ebenso ist die Arbeit auf Papier, die Japan international berühmt gemacht hat, die Praxis der Kalligraphie, keine freie Entscheidung, die jeder für sich treffen kann oder auch nicht. In Sumo-Schulen, Sport-Vereinen oder als Gemeinschaftsprojekt – Kalligraphie ist allgegenwärtig … und ein Muss. Auch sie dient dazu, den Geist zu schulen: Sinnliches, körperliches Erfahren, Zurücknahme und Unterordnung des Selbst und meditative Komponenten bilden zusammen den Zugang zur Ganzheitlichkeit des japanischen Denksystems und zu Idealen, die es ein Leben lang anzustreben gilt.

Papier im Alltag
Fortschritt wird in Japan mit Begeisterung gelebt. Es ist das Land der Erfindungen, der technischen Verbesserungen, der Kuschelroboter und der systematischen Automatisierung. Innovation wird hier so groß geschrieben wie sonst nirgends auf der Welt.Wer sich aber vorstellt, dass Papier deshalb aus der Alltagskultur umso schneller verschwindet, irrt.
Computer? Selbstverständlich, aber …
Ob im Klassenzimmer – und ganz gleich in welcher Stufe –, in der Abendschule zur Krankenschwester- oder -pfleger-Ausbildung, auf dem handwerklichen Berufsgymnasium oder an der Universität – es wird auch im Jahre 2025 auf Papier mitgeschrieben. Nur auf Papier. Fahrpläne führen die Lockführer in Form von per Hand ausgefüllten Formularen auf Klemmbrettern mit – ein amüsantes Paradox, sollen sie doch bald gänzlich durch fahrerlose Systeme ersetzt werden. Junge Reiseleiterinnen in der Tourismus-Industrie machen sich ihre Notizen zu den Sehenswürdigkeiten, die sie vorstellen sollen, nicht in ihr Smartphone, sondern auf Papier, und füllen Heft um Heft mit aktualisierten Informationen, die sie immer wieder abschreiben. Auch in Taxi-Unternehmen erfolgt die Disposition zwar am Bildschirm, doch Arbeitspläne und -berichte sind handschriftlich auf Papier einzureichen.
Digitalisierung mit ulkigen Facetten
Der langsame Abschied vom Papier in öffentlichen Behörden zeigt auch skurrile Blüten. Trotz oft kompletter Digitalisierung der Akten wird der als einzig fälschungssicher betrachtete Unterschriftenstempel Hanko oft immer noch gefordert. Insbesondere in der Provinz, in den mittelgroßen und kleinen Städten fernab der Metropolen, dort, wo sich ausgerechnet IT-affine junge Unternehmen ansiedeln, ist diese lustige Diskrepanz besonders auffällig.Auch das Papierbuch ist generationenübergreifend trotz e-Books im Grunde weiterhin konkurrenzlos, und es wird ihm bewusst eine besondere Aufmerksamkeit zuteil.
Papier und Etikette
Visitenkarten und die berühmten Geldgeschenkumschläge zu überreichen, gehört in Japan weiterhin zum guten Ton und zur Normalität. Papier-Grußkarten waren gerade in der Pandemie interessanterweise eine besonders beliebte Art, Zuneigung und Nähe zu demonstrieren, und wurden den Video-Calls vorgezogen, so dass Schreibwarengeschäfte trotz Lockdowns sehr bald als systemrelevant wieder eröffnen durften.
Papier als Lösung für die Welt von Morgen
Diese Verbindung von ideeller Wahrnehmung, bildungsorientiertem Ansatz, künstlerischen Umsetzungen und gesellschaftlich relevanter Dimension findet in einer Fülle von praktischen und konkreten Anwendungen ihren Ausdruck. Hier zeigt sich einmal mehr, was Design in Japan bedeutet.

Architektur aus Papier – zwischen Not und Ästhetik
Sind Zwischenwände aus Papier in traditionellen japanischen Häusern eine Selbstverständlichkeit, so geht der Architekt Shigeru Ban weiter. Was als Notunterkunft nach dem Erdbeben in Kobe begann, wurde zu seinem Markenzeichen und zu einem weltweit gefeierten Element nachhaltiger Bautechnik und nachhaltigen Möbeldesigns. Er errichtete eine ganze Kirche aus Papier – eine Premiere in der sakralen Architektur – und entwickelte von da an auch für andere Gebäude Lösungen aus Papier. Um Provisorien handelt es sich dabei nicht mehr. Viel mehr entstand mit der Zeit eine neue Form von umweltfreundlicher Architektur, die sich durchaus der ästhetischen Suche verpflichtet.
Zero Waste Life – Recycling mal anders
Nachhaltigkeit ist in Japan keine lästige Pflicht. Sie wird nicht als Zwang empfunden, Unbequemes in Kauf zu nehmen oder sich einzuschränken. Sie ist im Gegenteil die Gelegenheit, für eine fröhlich und unbeschwert umgesetzte Kreativität.So ist auch die Idee einer kleinen Papiermühle in Fukui zu sehen, die nun im ganzen Land Schule macht und auch im Westen erste Nachahmer findet: Papier aus Gemüse, das ansonsten unverarbeitet weggeworfen würde. Neue Versuche, die Zellulose der immer gefährdeteren Maulbeerbäume durch die Stärke von Süßkartoffeln, Kartoffeln und Wurzelgemüse als Grundlage für Washi zu ersetzen, sind ebenfalls geglückt.
Gerade in Japan, wo vermeintlich unansehnliches Obst und Gemüse wegen kleinster Makel und kaum sichtbarer Form- und Größenabweichungen sofort als unverkäuflich gilt und vorschnell entsorgt wird, ergeben solche neue Ansätze erheblich Sinn.
Die Liebesgeschichte zwischen Japan und dem Papier währt nun unzählige Jahrhunderte und dass sie zu Ende gehen könnte, ist glücklicherweise nicht abzusehen. Papier ist Ausdruck der japanischen Kultur und Ästhetik, Begleiter im Alltag und inzwischen auch ein Export-Produkt, das nicht nur Künstler und Kalligraphen in seinen Bann zieht: westliche Einrichtungsunternehmen entdecken Washi als Fenster-Sichtschutz, Re- und Upcycling-Start-Ups greifen die Ideen der nachhaltigen Papierherstellung wieder auf. Papier hat und ist in Japan eine Erfolgsgeschichte – ein Evergreen.