Dass Text zu Kunst werden kann, ist nichts Neues: Von den traditionellen Formen des japanischen Shodō oder der arabischen Kalligraphie über Mallarmés Kalligramme bis zu den modernen Werken mittlerweile weltbekannter Künstler wie Brody Neuenschwander, dessen Arbeiten in die berühmte „Bettlektüre“ Eingang fanden, oder Nicolas Ouchenir, der insbesondere in der Haute Couture-Szene wie ein Popstar gefeiert wird, wären zahlreiche Beispiele zu nennen. Dass allerdings Sprachen und die Tätigkeit des Übersetzens und der internationalen Verständigung selbst zum Gegenstand von Kunstwerken, Installationen und Ausstellungen werden, wäre auf den ersten Blick weniger zu erwarten. Doch drei Projekte haben in den beiden letzten Jahrzehnten hier neue Ansätze geschaffen.
Wien, 2003: „Der Turmbau zu Babel - Ursprung und Vielfalt von Sprache und Schrift“ Wilfried Seipel rief … und alle kamen. Dabei hätte das Projekt durchaus scheitern können, denn das Vorhaben war von nie dagewesenen Dimensionen und in seiner Interdisziplinarität mehr als nur ungewöhnlich. Sprachen ins Zentrum einer Kunstausstellung zu setzen, wäre schon Wagnis genug gewesen. Doch das Kunsthistorische Museum Wien ging weiter und kuratierte unter der Mitarbeit von über 120 hochrangigen Experten aus Kunstgeschichte, Linguistik, Biologie, Ethnologie, Anthropologie und Archäologie eine atemberaubende Monumentalschau, die Anspruch auf Universalität erheben darf.
Drei Teile führten von den künstlerischen Darstellungen des Turmbaus zu Babel und des Pfingstwunders im Laufe der Jahrtausende und den neueren archäologischen Erkenntnissen zu diesem Thema („Kunst“) über die Veranschaulichung von Spracherwerb aus linguistischer, neurologischer und anthropologischer Sicht und den Neuerungen in Bezug auf computergestützte Spracherkennung und -ausgabe („Sprache“) bis zur Entstehung und Entwicklung der Schrift und der Kryptographie („Schrift). Der vierbändige Ausstellungskatalog im Schuber stellt neben den 600 Leihgaben aus allen Kontinenten die bahnbrechende wissenschaftliche Arbeit vor, die auf der Grundlage der Vorbereitung dieser Schau entstand.
Tokyo, 2020: „traNslatioNs – Understanding Misunderstanding“
Dominique Chen lebt aufgrund seiner Biographie zwischen den Welten: Er besitzt die französische Staatsbürgerschaft, lebt in Japan, hat chinesische Wurzeln. Als Professor an der Faculty of Letters, Arts and Sciences, School of Culture, Media and Society der Waseda Universität in Tokyo forscht er hauptsächlich über die Auswirkungen der Interaktion zwischen Technologie, Künstlicher Intelligenz und Menschen und über ihre Folgen für die digitale Gesundheit und das Wohlbefinden. Der Weg zur Kunst ergab sich für ihn durch die Corona-Pandemie, die ihn dazu führte, über die Möglichkeiten einer Verbindung zwischen Kommunikation und kreativem Ausdruck zu reflektieren. Daraus und aus dem Dialog mit Psychologen, Linguisten, zweisprachigen Künstlern, Gebärdendolmetschern und Designern entstand eine begehbare und zum Teil interaktive digitale Kunst-Installation, die das Thema der Unübersetzbarkeit von Wörtern und Inhalten, von Sprachen und Gefühlen als positiven Teil der zwischenmenschlichen Kommunikation zugänglich macht und betont, dass Kommunikation kein perfektes Verständnis des Anderen voraussetzen muss, um erfolgreich zu sein. Vielmehr wird sie als Prozess aufgefasst, nach dem, wie in anderen Sinneswahrnehmungen auch, naturgemäß einige Teile eben durch die Maschen fallen und dadurch wiederum an Bedeutung gewinnen. Die Wahrnehmung des Unübersetzbaren, das zwischen Menschen aufgrund der Unterschiede ihrer Sprachen und aber auch ihrer Wesen, Kulturen, sozialen Herkunft steht, wird zum eigentlichen wertvollen Teil des zwischenmenschlichen Austauschs. So entwickelt sich der Turm zu Babel, die Unfähigkeit, zu verstehen und zu vermitteln, zu einem eigenen Kosmos zwischen natürlicher und künstlicher Sprache, zu einer eigenen Interaktionsebene, zum ästhetischen Objekt und somit zur Kunst.
Münster, 2023: „Weltreisen in Klangfarben“
Interkulturalität und Zweisprachigkeit kennzeichnen zwar die Biographie der Textkünstlerin Martine Paulauskas, und doch sind sie im Allgemeinen nicht Thema ihrer Kunst, die abseits des Rampenlichts entsteht. Sie ist in Frankreich geboren, schreibt aber in deutscher Sprache, ist immer wieder zwischen der akademischen und der schöpferischen Welt gewandert und widmet sich in ihrer künstlerischen Arbeit Textexperimenten und deskriptiven Miniaturen, die vor allem das Unscheinbare, Zarte, Unwichtige und Übersehene, die kostbare Flüchtigkeit des unwiederbringlichen Augenblicks festhalten. In ihrer Formsprache spielen impressionistische Texttableaus die wesentliche Rolle, das Wort ist nicht Mitteilung, sondern Werkzeug im Sinne der Bildenden Kunst. Ihr Interesse gilt sowohl der Erforschung eines Schönheitsbegriffs als auch den neurobiologischen und psychologischen Faktoren in der Entstehung und Rezeption von Kunst.
Die Stille in den Lockdow-Phasen der Corona-Pandemie und die in den Medien thematisierte Sehnsucht nach Ferne, Fremde und Reisen wurde 2020 für sie zum Anlass, die Rezeption von Fremdsprachen als Klang und Assoziation in den Mittelpunkt einer Textsammlung zu stellen, die poetisch hinterfragt, welche Bilder aus Farben, Licht, Düften und Klängen die Vorstellungskraft entstehen lässt, wenn Menschen eine Sprache hören, die ihnen fremd ist. So entstanden 14 Textminiaturen, die nun als Druck erschienen sind. Das Unvermittelbare ist hier weniger die Botschaften Babels, sondern viel mehr die intuitive, emotionale und sensorische Wahrnehmung sprachlicher Unterschiede.
Die Faszination, die Sprachen und ihre Vermittlung oder Unvermittelbarkeit ausüben, die Frage nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer interkulturellen und intersprachlichen Verständigung sind nicht nur in den Gemälden der Alten Meister ein wiederkehrendes Thema. Sie haben nichts von ihrem Reiz verloren und fügen sich in moderne digitale Installationen und linguistisch-ethische Überlegungen ebenso wie in neuartige Text- und Kunstansätze ein. So wird aus dem unbedachten Ausdruck „Kunst des Übersetzens“ erschaffene Realität.
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