Literaturhotels – der stille Hype?
- Martina Schmid
- 17. Juni
- 6 Min. Lesezeit

Einfallsreichtum ist der Kraftstoff einer oft als übersättigt bezeichneten Tourismus-Branche, die nicht müde wird, immer neue Trends ins Leben zu rufen, um dem inzwischen recht abgestumpften, aber immer anspruchsvolleren Kunden attraktive Reisealternativen zu bieten. Ob Extremsport, Adventure Travel auf der Suche nach Naturerkundung und kulturellen Entdeckungen, Garten- und Krimitouren, Genussmomente oder Wohlfühl-Aufenthalte zur Erholung von Körper und Seele – Entfernung und exotische Ziele spielen heute kaum mehr eine Rolle. Drei Faktoren sind in der Branche das A und O: Individualität, Originalität und Erlebnis. Mit allen Sinnen das spüren, was für einen selbst das Leben ist … dies entscheidet über Erfolg und Misserfolg. Doch abseits dieser Entwicklung ist im Stillen eine Bewegung entstanden, die sich an eine ganz andere Zielgruppe wendet.
Der Ursprung: wie eine amerikanische Idee Hoteliers in aller Welt inspirierte
Hotels gegen das Einerlei
Wer viel reist, weiß um die Vor- und Nachteile von Hotelketten: Auf der einen Seite kann der Gast auf bleibende Standards vertrauen. Er muss sich keine Gedanken darüber machen, was ihn in Kategorien von Service, Hygiene, Ausstattung erwartet, denn es gelten international festgelegte Maßstäbe, die höchstens zwecks Aufrechterhaltung einer gewissen Form von Lokalkolorit angepasst werden. Überspitzt ausgedrückt: Er könnte unter Umständen Mühe haben, sich daran zu erinnern, in welcher Stadt er gerade aufwacht, denn von New York bis Singapur über Frankfurt bleibt im Grunde alles gleich. Was für den Business-Reisenden durchaus begrüßungswerte Zuverlässigkeit sein kann, schätzen Städtetrip-Touristen weit weniger. Hier fehlt das gewisse Etwas, die Individualität, die dem Zielort Persönlichkeit verleiht und zu bleibenden Erinnerungen beiträgt. Parallel dazu galt es für kleinere familiengeführte Hotels drei Herausforderungen zu meistern. Um wirtschaftlich bestehen zu können, mussten sie jeweils eine Einzigartigkeit aufbauen, die sie nicht nur von der Konkurrenz gleicher Größe absetzte, sondern auch das Image der „kleinen Pension“ ablegen und einen echten und werttragenden Gegenpol zu dem sich immer rasanter entwickelnden privaten Online-Angebot an Ferienwohnungen und Wohnungstauschmöglichkeiten darstellen.
Die Quadratur des Kreises: eine Mischung mit Charakter
Die Lösung war schnell gefunden: Ein wenig Luxus, ein wenig Extravaganz oder gar Verrücktheit, ein schlüssiges und aufwändiges ästhetisches Konzept, viel Design, ein sehr persönliches und zuvorkommendes Verhältnis zum Gast, ein Nischenthema als Leitfaden der USP, ein umfassender Service auf sehr gehobenem Niveau … schon war das Boutique-Hotel geboren, das sich zunächst oft an Zufälle und Stadtgeschichte anlehnte. Hatte ein berühmter Rock-Musiker in einem bestimmten Gebäude gewohnt, war ein Flur bereits mit Werken eines bekannten Graffiti-Künstlers bemalt, war ein Viertel für seine Jazz-Keller beliebt, wurde um das entsprechende Thema kunstvoll und mit erheblichem Aufwand eine bis ins kleinste Detail durchdachte Welt gestaltet, die aus einer einfachen Übernachtungsmöglichkeit einen echten kulturellen Mehrwert zu bieten wusste.
Fortan war das Hotel nicht mehr nur eine Unterkunft für Kurztrips, sondern wurde immer mehr zu einem eigenständigen Reiseziel, weil man es schlicht „gesehen haben musste“. Mancher nahm sich vor, alle Boutique-Hotels zu seinem ganz persönlichen Interessenbereich aufzusuchen, was ganz unversehens zu einem neuen Touristiktrend wurde. Neben Dekoration und Mobiliar entstanden - nicht zuletzt durch den Druck des Wettbewerbs bedingt – regelrechte Memorabilien-Sammlungen, die einem kleinen Museum in nichts nachstanden. Der Gast konnte vor Ort nicht nur Postkarten, Poster und andere Merchandising-Artikel erwerben, sondern fand dort auch kleine Regale mit themenbezogenen Büchern, die er als Lektüre während seines Aufenthalts nutzen oder auch mitunter kaufen konnte.

Von der amerikanischen Pop-Kultur zur europäischen Kultur
Die neuen Kultureisenden
Parallel dazu erlebten Touristikunternehmen einen nie da gewesenen Umbruch: Ausgerechnet Kultur- und Bildungsreisen, die seit wortwörtlich Jahrhunderten ein unerschütterlicher Pfeiler der Branche gewesen waren, wankten. Neben der allgemeinen wirtschaftlichen Situation spielten hier demographische Gegebenheiten eine Rolle, die zu einem Imageproblem führten. Entsprechende Programme erstreckten sich über mehrere Wochen, waren daher recht kostspielig und stießen auf die Grenzen der neueren Arbeitswelt. Kaum einer konnte die heute eher zerstückelten Urlaubszeiten mit einer dreiwöchigen Tour verbinden, während die Zielgruppe jenseits des Rentenalters immer weiter abnahm. Jüngere Urlauber wiederum, für die das persönliche Erleben von zentraler Bedeutung war, empfanden diese Angebote als verstaubt, langweilig und passiv und konnten keinen Reiz darin sehen, stundenlang in einem Bus zu sitzen und den auswendig gelernten Ausführungen eines in vielen Fällen selbst desinteressierten Reiseführers zuzuhören, die sie in gleicher Form auf ihrem Smartphone hätten lesen können. Reise sollte nicht „Unterricht“ sein, sondern Erfahren.
Kultur immersiv erleben
Im selben Maße, wie auch Kulturinstitutionen begannen, Ausstellungskonzepte zu überdenken, um sie den neuen Anforderungen und dem Zeitgeist anzupassen, wurde auch im Tourismus der Ruf laut, Entdeckungen durch Eintauchen in das jeweilige Universum zu fördern. Hoteliers erkannten ebenfalls schnell die Zeichen der Zeit. Den Anfang machte England. Liverpool etwa besann sich auf seine thematischen Stärken und in dem entsprechenden Viertel entstand ein beeindruckend durchdachtes Boutique-Hotel-Konzept zu den Beatles. Bald folgte London, das sich traditionelleren Aspekten der eigenen lokalen Kultur widmete. In die Jahre gekommene Hotels nutzten den Trend, um aus ihrer Vergangenheit und der Geschichte der Stadt Schwerpunkte abzuleiten. Es gab Boutique-Hotels zur modernen Architektur der City, zu englischem Porzellan oder viktorianischer Geschichte. Letztlich gaben diese Häuser in London mit der Zeit allerdings mehrheitlich ihre thematische Ausrichtung auf und sind heute wieder lediglich als Hotel gehobener Kategorie zu betrachten. In anderen Ländern, in denen Pop-Kultur eine untergeordnete Rolle spielte, eröffneten sich spontan andere Wege. In Italien etwa ergab sich eine besonders günstige Konstellation: Gerade weil nach wie vor verhältnismäßig viel Kunst in Familienbesitz verbleibt und denkmalgeschützte Gebäude die üblichen finanziellen Probleme mit sich bringen, was Instandhaltung und Unterhalt betrifft, sahen viele in den aufkommenden Trends die Chance, neue tragfähige wirtschaftliche Geschäftsmodelle aufzustellen. Kleine Orte feierten so auch ihre lokalen Helden – von da Vinci bis Fellini – und scheuten nicht die Verbindung von alter und siebter Kunst.
Literaturhotels – eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte
Aus Deko und Flair wurde Inhalt
Fest stand zunächst, dass alle Konzepte dieser Art ein – wenn auch zum Teil sehr kleines und nicht immer ernst zu nehmendes – thematisch passendes Bücherangebot aufwiesen.
War es in den Vereinigten Staaten und zu Beginn auch in England zuweilen auf ein bescheidenes wackeliges Regal in einem Flur oder ein dekorativ und ostentativ auf das Nachttischchen platziertes Büchlein beschränkt, so wuchsen mit dem immer höheren Standard und der Annäherung zum Luxushotel insbesondere in Europa Umfang, Qualität und Präsentation.
Die Bücher waren nicht mehr nur Ergänzung, „Nice-to-Have“ oder augenzwinkerndes Alibi, sondern wichtiger Teil des Angebots. Book-Shops und mitunter sehr kundig zusammengestellte Bibliotheken wurden zu einem zentralen Element vieler Boutique-Hotels.
Frankreich: allgegenwärtige Literatur und eine Fülle von Ideen
In Frankreich, wo Literatur ohnehin nicht nur im kulturellen Leben, sondern auch im Alltag einen bevorzugten Platz innehat, waren die ersten Boutique-Hotels, ob damit veraltete Geschäftsmodelle neu belebt oder neue Häuser eröffnet wurden, wie selbstverständlich dem Buch gewidmet. Ob in den Geburtsstädtchen berühmter französischer Autoren in der Provinz oder in der Nähe ikonischer Pariser Orte, in denen Hemingway und Sartre verkehrten – Literaturhotels schossen auf einmal wie Pilze aus dem Boden. Fasst die Société des Hôtels littéraires nur die prominentesten zusammen, so sind sie im ganzen Land in allen Größen und Kategorien zu finden. Zudem ist das Konzept nicht auf Dekoration und Bibliotheken begrenzt: Viele Hotels veranstalten Lesungen, Bibliophilen-Begegnungen, Schreibateliers oder haben sogar eigene Literaturpreise oder Writer in Residence-Programme ins Leben gerufen.
Deutschland, Österreich und die Schweiz setzen dem Buch einen Rahmen
Anders als in Frankreich oder Italien ist im deutschsprachigem Raum weniger die thematische Ortsnähe relevant: Literaturhotels suchen hier gezielt nach Standorten oder Zusammenhängen, in der Lektüre als Entspannung verstanden und in Ruhe genossen werden kann – oder umgekehrt als Rahmen für andere sinnliche Genüsse betrachtet wird.
Neue amerikanische Buchkultur
Bestehen die ursprünglichen Boutique-Hotels in den Vereinigten Staaten heute vielerorts weiterhin, so haben sich die Literaturhotels auch hier vom Ausgangskonzept emanzipiert. Die Leidenschaft und das bemerkenswerte, jedoch zuweilen etwas unbeholfene Engagement der ersten Jahre sind einer zunehmenden Professionalität gewichen, was sich selbstverständlich auf die Zimmerpreise auswirkt. Ebenso ist die literarische Qualität des Angebots stetig verbessert worden und die europäische Literaturszene ist hierbei von großer Bedeutung.
Was in den USA aus einer kurzfristigen Marketingidee der künstlerischen Boheme und Ansatz von begeisterten Amateuren begonnen hatte, ist mittlerweile eine feste Größe. Literaturhotels spiegeln in aller Welt die geistigen Hintergründe der jeweiligen Kultur wider, integrieren die Geschichte von Orten, Denkweisen und Menschen und sind längst zu einem selbstbewussten eigenständigen Konzept geworden, das wirtschaftlich deshalb erfolgreich ist, weil es alle demographischen Schichten anspricht, kurzfristige Aufenthalte ermöglicht und sich nicht aus der Reaktion auf Sonderangebote und Aktionen finanziert, sondern gezielt gesucht und gebucht wird.

Tatsächlich wäre es heute möglich, von einem Literaturhotel zum anderen die ganze Welt zu umrunden – buchstäblich und metaphorisch.