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Etagere – ein köstliches Missverständnis


Etagere mit süßen Köstlichkeiten



Das mehrstöckige Gestell aus Tellern oder Platten gleicher oder nach oben hin kleiner werdender Größe ist in fast jedem Haushalt zu finden und wird heute zu den unterschiedlichsten Zwecken verwendet: Pralinen, Früchte, Gebäck, Party-Sandwiches oder Kanapees, Käse, Muffins, Cupcakes, Antipasti, Tapas, oder aber ebenso Badeperlen und Gästeseifen lassen sich auf der Etagere perfekt in Szene setzen. Ihr Ursprung liegt im Barock und sie gehört in allen Ländern zu den beliebtesten Accessoires der Speisen-Präsentation. Doch interessanterweise ist die Etagere nicht ganz das, was ihre Etymologie verspricht, und im internationalen Gespräch kann dies zu durchaus lustigen, ja geradezu köstlichen Missverständnissen führen.



Die überschwängliche Üppigkeit des Barock

Das Barock war eine zwiespältige Zeit. Die Reformation und ihre strenge bittere Stimmung wirkte noch in den Köpfen nach, zahlreiche und bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse hatten zudem die Grundfesten des Vorstellbaren erschüttert und für eine Verunsicherung gesorgt, die nach einem Ausgleich verlangte. Die Antwort auf diese Ängste entfaltete sich in einer überschwänglichen Üppigkeit, die alle Lebensbereiche berührte. Wovon Architektur und Malerei zeugen, kam ebenfalls im Alltag der wohlhabenden Bevölkerungsschichten auf vielfältige Weise zum Ausdruck. Die Kleidung der gehobeneren Gesellschaft trug dies in schweren Brokaten und Stickereien zur Schau, Vergnügungen wie das Theater, endlose Feiern und aufwändige gesellschaftliche Spiele nahmen an Häufigkeit und Bedeutung zu. Schwere Zeiten, süße Zeiten Aber auch die Essgewohnheiten änderten sich. Neben reichhaltigen schweren Fleischgerichten war das Barock vor allem die Zeit der Süße: der kunstvoll gestalteten Baiser-Gebilde, der Krokant-Skulpturen, der Kuchenpyramiden und mehrstöckigen Torten. Gemüse und Fleisch wurden mit Zucker glasiert, Obst kandiert … Sogenannte Zuckerbanketts wurden veranstaltet. Nichts konnte süß genug sein. Hatte diese Entwicklung einerseits mit der Verfügbarkeit von Rohrzucker durch Importe aus den karibischen Kolonien zu tun, andererseits mit kulinarischen Anregungen, die sich aus dem regen Handel mit Italien und den engen Beziehungen zum Versailler Hof ergaben, so ist darin – darüber herrscht unter Kunsthistorikern und Kulturwissenschaftlern bereits seit dem 19. Jahrhundert Konsens – nicht zuletzt ein anderes Phänomen zu sehen: Angesichts einer sich verändernden und als unsicher und erschreckend empfundenen Welt, in der Werte und Erkenntnisse wankten, suchte der zweifelnde Mensch, so sein Stand es ihm ermöglichte, Trost und Halt im Essen, namentlich im Übermaß süßer Genüsse.



mehrstöckige Beeren-Torte auf einerm Silbertablett

Kunstvolle Formen wollen hoch hinaus Wie in der Kunst und den Gärten spielten komplizierte Inszenierungen eine grundlegende Rolle. Der Präsentation der Speisen wurden viel Aufwand und Aufmerksamkeit gewidmet. Die Pyramidenform, die den Blick nach oben lenkte, war äußerst beliebt und hat in den amerikanischen und französischen Hochzeitstorten, wie wir sie kennen, die Jahrhunderte überdauert. Fülle und Überfluss wurden durch das Aufschichten von Lebensmitteln auf Büffets suggeriert, indem Bänkchen auf Tische gestellt wurden. Aufgrund dieser Praxis übrigens sprechen wir heute von „Bankett“. Aber auch Kleinigkeiten „für zwischendurch“ wollten spektakulär gereicht werden, und das Barock war der Beginn vieler Elemente einer Tischkultur, die sich fest etablieren sollten. So kam die Etagere in Mode.


Eine trügerische Etymologie – Küchlein oder Büchlein?

Der Name klingt französisch und ist es gewissermaßen auch. Aber nur gewissermaßen. Tatsächlich handelt es sich um eine Entlehnung des Wortes „étagère“. „Étage“ bedeutet im Französischen „Stockwerk“, eine „étagère“ ist dementsprechend ein Gebilde aus mehreren Stockwerken. Damit endet allerdings der einfache und verständliche Teil der Geschichte. Denn eine „étagère“ war nie das kleine Gestell aus übereinander liegenden Tellern oder Platten. Es handelte sich um ein Möbelstück, ein offenes Holzregal, wie wir es für Bücher kennen. Die Form, die Aufsetzung mehrerer Böden übereinander, stimmt also, der Zweck nicht. Ein Teil des Missverständnisses könnte darauf beruhen, dass in französischen Haushalten als „étagère“ ebenfalls das Brettregal bezeichnet wurde, das in der Küche an der Wand befestigt Teller aufnahm. So könnte der Zusammenhang zwischen einem Gebilde aus mehreren Etagen und Geschirr entstanden sein, da Französisch als Sprache und der Hof von Versailles insbesondere als schick und Inbegriff von Lebensart galten.


Und für die Franzosen heute? Franzosen, die nicht im deutschen Sprachraum gelebt haben, verstehen „Etagere“ in Zusammenhang mit der Tischkultur überhaupt nicht. Das hübsche Gestell heißt dort wahlweise „valet de table“ (wörtlich: Tischdiener), „présentoir à plateaux“ (Tablett-Ständer), „présentoir de buffet“ (Büffet-Ständer), „serviteur muet“ (Stummer Diener), oder „serviteur à étages“ (Etagendiener), am häufigsten aber „présentoir à gâteaux“, also Kuchen- und Gebäck-Ständer, oder „présentoir salon de thé“. Amüsante Anekdote: Frankreich betrachtet die Etagere als … typisch britisch, denn sie ist in der französischen Vorstellung untrennbar mit dem dezent vornehmen Ambiente und der frischen schlichten Eleganz der traditionellen Tee-Stuben verbunden. Erfolgreich beruft sich in Frankreich das Marketing auf diesen vermeintlichen Ursprung und regt an, sich durch einen „présentoir à gâteaux de style anglais“ die feine englische Lebensart und damit ein ganz nebenbei ein Stück stilvolle Originalität und unnachahmliches Flair in das eigene Zuhause einzuladen.




Cupcakes auf einer Etagere


Die Etagere ist mit ihren übersetzerischen Verwicklungen ein faszinierendes und zugleich ein wenig anrührendes Beispiel für die verschlungenen Wege, über die wir Geschichte, Kultur und Sprache verinnerlichen. Sie zeigt, wie wir Lebensart bewerten und interpretieren, wie wir aus und von anderen Ländern lernen und ihre Lifestyles in unsere überführen – auch wenn wir die Dinge nicht immer wirklich beim richtigen Namen zu nennen wissen.

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