Foto: Martina Schmid
Wie ein alter Lifestyle wieder modern wird
Heidelbeeren aus Peru im November, Tomaten aus Marokko zu Weihnachten, Melonen aus Chile im Januar … In unseren Supermärkten ist die Fülle dessen, was unser Planet an Lebensmitteln zu bieten hat, ganzjährig verfügbar. Großproduktion und die Schnelligkeit der internationalen Handels- und Transportwege führen dazu, dass Obst und Gemüse unabhängig von Jahreszeiten und Wohnort und oft sogar zu einem überschaubaren Preis für alle zu kaufen sind. Vorbei sind die Zeiten, als der Erwerb von Himbeeren im Dezember nur in Kleinstmengen in erlesenen Delikatessengeschäften oder beim „Kolonialwarenhändler“ möglich und ein unerschwinglicher Luxus war. Die Sonne, der Duft und der Geschmack der ganzen Welt werden uns täglich und ganz ohne unser Zutun zu Füßen gelegt. Wir müssen nicht überlegen, ob wir für ein bestimmtes Rezept diese oder jene Zutat bekommen können – wir brauchen nur in den Supermarkt zu gehen und sie auf das Kassenband zu legen.
Nicht immer nur Bananen …
Die Bequemlichkeit unserer Supermarktkultur hat nicht nur dazu geführt, dass Kindern heute oft nicht mehr bewusst ist, wann welche Pflanzen ihre Früchte tragen, wie sie wachsen, aussehen und geerntet werden. Und auch auf Wochenmärkten kann das vielfältige Angebot bei weitem nicht mehr als regional bezeichnet werden. Vielmehr haben wir hier gewissermaßen den Bezug zu Zeit und Ort verlernt: Wir müssen nicht auf Frühling und neue Ernten warten, um frisches Gemüse zu bekommen, wir müssen uns nicht bis zum Sommer gedulden, um sonnengereiftes Obst zu genießen, wir müssen nichts einkochen, um das ganze Jahr über Vitamine zu tanken. Nimmt man die ärmsten Länder aus, in denen nicht einmal die nötigste Versorgung gewährleistet ist, ist diese Entwicklung weltweit zu beobachten und überall längst zur Selbstverständlichkeit geworden.
Aus Natur wird Tradition
Aber der Mensch braucht einen Rhythmus, Unterscheidungen, Zyklen und Highlights. So wie den Wechsel der Jahreszeiten, das eintönige Einerlei entspricht ihm nicht, und er möchte Strukturen. Der menschliche Einfallsreichtum hat hier zu zwei faszinierenden Phänomenen geführt.
In vielen Ländern Mitteleuropas drückt sich kulinarische Saisonalität weniger in der Auswahl der gekauften Produkte als in zelebrierten Traditionen aus: Wir kennen im deutschsprachigen Raum etwa die Pflaumenkuchen-Zeit, in den Vereinigten Staaten wird Thanksgiving mit Preiselbeersoße, Kürbis und Süßkartoffel-Gerichten gefeiert – auch wenn frische Pflaumen und Süßkartoffeln weltweit ganzjährig zu haben sind. Werden die Jahreszeiten am Esstisch nicht mehr wirklich gelebt, so bleiben jedoch die Erinnerungen und die Gewohnheiten, die sie einst erschufen, in kleinen Ritualen lebendig und werden wie ein Schatz gehütet und gepflegt.
Auch sprachlich wurden spontan Lösungen entwickelt, um saisonale regionale Produkte hervorzuheben und von der normal gewordenen, allzeit verfügbaren Massenware abzugrenzen. In Nordamerika wird zwischen „market“ und „farmers' market“ unterschieden, im deutschsprachigen Raum sprechen wir dann von „Bauernmärkten“ oder „regionalen Bio-Märkten“, während das Angebot auf dem Wochenmarkt vielerorts alles andere als lokal und saisonal anmutet.
'Fruits et légumes de saison' sind ein Muss
In Frankreich wird die saisongerechte Verwendung von Gemüse und Obst in der täglichen Küche als Selbstverständlichkeit und Teil französischer Kochtradition betrachtet. Sie steht für Qualitätsversprechen und den unverrückbaren Glauben an allgemeingültige, kulturell wichtige „echte Werte“. Bodenständigkeit wird nicht nur am heimischen Herd zu einem nicht verhandelbaren Prinzip: Nur so ist es möglich, ein hochwertiges und authentisches Geschmackserlebnis zu erschaffen, und auch die Haute Cuisine, die hohe Kunst der Sterneköche, bleibt diesem Grundsatz treu. Die Frage nach saisongerechtem Kochen ist in der französischen Vorstellung eine Frage von „richtig“ und „falsch“, ein gesellschaftlicher Maßstab.
Japan: Oishii und Genki
Foto: @wix.com /Landwirt pflücken Gemüse
In Japan spielt Qualität ebenfalls eine zentrale Rolle, jedoch ist der Ansatz in seinem Ursprung ein anderer. Hier verbinden sich jahrhundertealte Gewohnheiten und die Liebe zur Vergangenheit mit weiteren Faktoren, die da sind: historische, klimatische, geographische und religiöse. Die lange Zeit der vollständigen politischen Abschottung, in der das Überleben nur vom eigenen Boden gesichert werden konnte und musste, ist im kollektiven Unterbewusstsein noch erstaunlich tief verwurzelt. Ein kompliziertes Klima mit unerträglich heißen Sommern und strengen, extrem schneereichen Wintern, die auch heute noch in manchen Provinzen das Leben zum Erliegen bringen, verstärkt das Bedürfnis, alte, nämlich bewährte Lifestyles aufrechtzuerhalten, die Gesundheit und Auskommen schützen und fördern. Die immer wiederkehrenden Erdbeben, Tsunami und Stürme, die das Land heimsuchen, prägen zudem ein besonderes Verhältnis zur Umwelt, das Shintoismus und Buddhismus noch verstärken. Der Natur nach zu leben, im Einklang mit ihr, die Verbindung zu ihr wahrhaftig zu spüren und anzunehmen, ist sowohl Ethik und Verpflichtung als auch gesundheitliche Vernunft. Wie in Frankreich folgt die gehobene Küche ebenfalls dezidiert diesem Grundsatz.
Durch den Klimawandel haben bereits kritische Stimmen die Notwendigkeit eines ganzjährigen Lebensmittel-Überflusses hinterfragt und über die ökologisch und gesundheitlich bedenklichen Seiten unserer Handels- und Essensgewohnheiten und unserer Entkopplung von Natur und Jahreszeiten reflektiert. Die Pandemie hat dieser Rückbesinnung auf vermeintlich altmodische Werte neue Nahrung gegeben: Der Wunsch nach kürzeren Wegen und zuverlässigeren Lieferketten, nach einem ruhigeren, naturnäheren und gesünderen Lebensstil, nach mehr Nachhaltigkeit wird lauter. Hofläden und Meat-Sharing erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Saisonbewusst zu kochen, ist nun nicht mehr eine lästige Einschränkung oder eine Art naive Nostalgie, sondern eine echte Option und eine bewusste Entscheidung für eine alte und wieder sehr neue Lebensart.
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